Alle Beiträge von Kurt Edler

Born in 1950. Teacher in Hamburg 1977-2004. Activist and co-founder of the Green Party and member of parliament in Hamburg 1984-86 and 1993-1997. Chairman of the German Society of Citizenship Education from 2008 to 2017. German Coordinator in the Council of Europe Programme Education for Democratic Citizenship and Human Rights (2009-2018).

Das Kabul-Syndrom

Der Taliban-Sieg erzeugt nun ein neues Narrativ: die Unüberwindbarkeit der Stammesgesellschaft. Ein herrlicher Stoff für neue Mythen. Aha – Demokratie geht hier nicht. Sie ist halt westlich, rational und staatsfixiert. Für den Afghanen ist das nichts.

Auf diese Erzählung werden alle aufspringen, die ihre Vorbehalte gegen den „Westen“ nun bestätigt finden, mit ihren rückwärtsgewandten Utopien von kerniger Gemeinschaft, wie sie Zygmunt Bauman in seinem letzten Werk „Retrotopia“ charakterisiert hat. Ich befürchte, dass sich damit ein ideologisches Bündnis herausbildet, in dem freiheitsfeindliche und identitäre Konstrukte miteinander verschmelzen: NATO-Gegner, Völkische und linke Kulturalisten im selben Boot.

Die vermeintliche Hochachtung vor der rauen Lebensart am Hindukusch ist aber so menschenfreundlich gar nicht. Denn wer glaubt, dass es andernorts auch ohne Parlamentarismus, Gewaltenteilung und politischen Pluralismus geht, für den haben die Ideale der Aufklärung keine allgemeine Geltung. Wir stünden dann vor dem Phänomen einer kolonialistischen Weltbetrachtung von links und rechts: „Der Afghane“ braucht keine Freiheit, die Afghanin schon gar nicht. Aber wie sollen sie gegenüber dem Stammespatriarchen oder dem religiösen Führer ihr Selbstbestimmungsrecht verteidigen?

Ich muss an meine afghanischen Schüler in den Jahren von 1991-99 denken, die als Flüchtlinge in einem einzigen Jahr Deutsch lernten und das Grundgesetz vor lauter Begeisterung nur so verschlangen. Was hätten sie zu diesem Menschenbild gesagt?

Olle Kamellen

Die Angst vor einem fulminanten Wahlerfolg der Grünen im Herbst führt nicht nur bei der Laschet-CDU zu einer verbalen Radikalisierung. Sie ruft auch die Macher großer politischer Magazine auf den Plan. In der Mai-Ausgabe von CICERO holzt sogar der Chefredakteur selber drauflos. Die Grünen sind ihm eine Titelgeschichte wert – ebenso dem SPIEGEL von dieser Woche. Das Ziel ist, dafür zu sorgen, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, wenn man schon ihre Farbe leider nicht ändern kann.

Es lohnt ein Blick auf die Qualität der Argumente. Auch als Grüner will man ja lernen, was es Neues gibt. Vierzig Jahre Warnung vor den Grünen haben Topoi entstehen lassen, deren Wirkungsmacht immer mehr verblasst. Wir lesen und sind enttäuscht: nichts als „olle Kamellen“. Beide Magazine tischen die beiden klassischen Vorbehalte auf: (1) Die Grünen sind machtgeil und haben ihre Ideale verraten. (2) Mit ihrer Ökologiepolitik werden sie den Wirtschaftsstandort Deutschland kaputtmachen. Beide Magazine verheddern sich dabei jedoch in einer leicht erkennbaren Widersprüchlichkeit. Sie warnen vor Annalena Baerbock („Würden Sie dieser Frau Ihr Land anvertrauen?“) – hier schimmert bei CICERO eine rechtspopulistische Rhetorik auf, die mit Angst um die Heimat und vor Fremdheit spielt. Oder – typisch für den immer skandalverliebten SPIEGEL – sie sind verzweifelt auf der Suche nach Verfehlungen und kleinen Versprechern und zeigen auf, in welchem Ausmaß die Grünen in der politischen Wirklichkeit angekommen sind. Die Botschaft, beide Journale zusammengenommen, ist also: die Grünen sind fremd, und sie sind hier. Anders ausgedrückt: sie wollen eine andere Republik, halten sich aber an die Regeln.

Irgendwie dämmert es den Schreibern, dass die eigene Kritik wenig konsistent ist. Sie dürfen ja die Intelligenz ihrer Leserschaft nicht allzu sehr beleidigen. Und deshalb gibt es doch so ein paar ganz kleine Markierungen, die von grüner Seite als ein indirektes Lob gelesen werden könnten. „Viele Forderungen sind heute mittiger“, heißt es im CICERO, ungewollt anerkennend. Und im SPIEGEL heißt es: „Kaum eine Partei verkörpert Veränderung so wie die Grünen, die 16 Jahre nicht im Bund regiert, sich zwischendurch neu erfunden und von neuem Klimabewusstsein in der Gesellschaft profitiert haben“.

Und, könnte man süffisant hinzufügen, offenbar auch nicht so richtig Angst haben müssen vor den alten Angstmachern.

(02.06.21)

Demokratisierung der Deutschen

Was Tim Schanetzky, Tobias Freimüller, Kristina Meyer, Sybille Steinbacher, Dietmar Süß und Annette Weinke 2020 herausgegeben haben, ist eine multiperspektivische Aufsatzsammlung namhafter Geschichtsprofis, die sich alle, an unterschiedlichen Gegenständen, mit der Frage befassen, wie es gelingen konnte, auf den materiellen und geistigen Trümmern der NS-Diktatur und ihrer Gesellschaft eine demokratische Republik zu errichten: ein stets „ambivalentes und gefährdetes Projekt“.

Eine Lese-Empfehlung.

Meinungsmache im Trüben

Folgende Aussagen im Interview mit H.G. Maaßen bei Tichys Einblick („Der Staat soll destabilisiert werden“) finde ich problematisch (mein Kommentar jeweils angehängt):

  1. Zu der „Müll“-Äußerung der TAZ-Journalistin habe es eine breite Unterstützung in bürgerlichen Zeitungen gegeben. Stimmt nicht – im Gegenteil, es gab Kopfschütteln und einen Sturm der Entrüstung. Der Druck auf die TAZ wurde ziemlich groß, die Kollegin zur Räson zu bringen oder gar zu entlassen.
  2. „Die Politiker“ hätten sich nicht schützend vor die Polizei gestellt. Stimmt nicht. Seehofer erwog sogar eine Strafanzeige. Es gab in den Medien deutliche Abgrenzungen.
  3. Die Polizei wage bei großen Versammlungen gegen Corona-Sperre nicht einzugreifen. Kommentar: Das ist auch sonst oft so, und sie verfährt dabei nach dem Opportunitätsprinzip.
  4. Polizeibeamte würden vorsichtiger, weil es in Berlin ein Antidiskriminierungsgesetz gebe. Dessen Motivation sei gegen die Polizei gerichtet und solle diese von einem deutlichen Vorgehen abhalten (Insider-Abkürzung EDEKA = Ende der Karriere). Reine Meinungsmache ohne Beleg.
  5. Nachwuchs werde davon abgeschreckt, zur Polizei zu gehen, die Polizei werde deshalb noch migrantischer, weil sich ein junger Araber durch das Berliner Gesetz eher zu einer Bewerbung motiviert sehe und sich vor Maßnahmen gegen sein Handeln als Polizist eher geschützt fühlen könne als ein junger deutscher Polizeibeamter. Kommentar: Das ist eine geschickte Bedienung einer Emotion, die sich politisch einpacken lässt: Deutsche benachteiligt.  
  6. Tichy: Ursula von der Leyen habe bei der Bundeswehr „jeden Spind durchsuchen lassen“, ohne etwas zu finden. Klare Falschbehauptung: NS-Referenzen wurden gefunden und der Medienöffentlichkeit auch im Nachrichtenfilm vorgestellt.
  7. Hinter der Kritik an REx-Tendenzen in der Bundeswehr stehe „in bestimmten Kreisen“ ein linksextremistisches Motiv, nämlich, die Bundeswehr zu diskreditieren und die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu schwächen. Kommentar: Da es in dem Gespräch bis hierhin um die Kritik von Regierung und Medien an solchen Tendenzen ging, ist der Vorwurf des Linksextremismus ziemlich hanebüchen. Hier ist Maaßen erkennbar sehr dicht bei der AfD.
  8. „Die Keule Rechtsextremismus“ werde in einer Weise gezogen, die überzogen sei, und dies tue man, um bürgerliche Strukturen zu diskreditieren. Tichy bestätigt dies mit dem Begriff der „Diskreditierungsstrategie“. Kommentar: Das ist unseriös, weil tautologisch. Die Sendung beginnt mit einer Unterstellung, die nun, im Verlauf des Interviews, im Zirkelschluss als Erklärung herhalten muss.
  9. Die Bewegung „Black Life Matters“ hat eine globale Ausbreitung nur finden können durch eine „immense Organisation, die dahinterstecken muss“. Tichy bezeichnet dies als ein „Überschwappen auf das ganz anders geartete Europa“. Eine Organisation, „die gleich denkt, die gleichförmig denkt, die da ist, und die auch in der Lage ist, Webseiten aufsetzt und nahezu gleichzeitig diese für die Demonstrationen zur Verfügung zu stellen“. Er müsse davon ausgehen, „dass es interessierte linke Kreise waren, die die Architektur oder Organisation für derartige Demonstrationen zur Verfügung gestellt haben“. Tichy assoziiert hier nun „Antifa“, ursprünglich nur eine Spinnerei linker Jüngelchen, plötzlich aber entdecke man, dass diese deutsche Spinnerei Teil eines globalen Netzwerks sei. Maaßen bestätigt, der deutsche Linksextremismus sei schon seit den siebziger Jahren global vernetzt, nennt dann dessen Themen: „Antifaschismus, Antirassismus, Anti-Imperialismus“. Das seien doch aber eigentlich alles Begriffe aus der sowjetischen Mottenkiste, erwidert Tichy. Maaßen bestätigt das und weist auf die Wirksamkeit leninistischer Propaganda hin, sieht aber kein Master-Mind dahinter, sondern eine „Schwarm-Ideologie“. Nachdenken über Verbotspraxis gegenüber der Antifa. Tichy bringt hier die angeblich großzügige Finanzierung von NGOs durch das Bundesfamilienministerium zur Sprache. Kommentar: Hier wird in einer langen Sequenz der weltweite Protest gegen Rassismus in einen Frame von linker Antifa, die weltweit operiere, gerückt, also delegitimiert, und das Verschwörungsnarrativ ist unverkennbar. 
  10. Tichy resümiert, es sei ja in dem Gespräch ein relativ düsteres Bild entstanden. Maaßen appelliert an die Zivilcourage und erklärt, Politiker seien oft abhängig und könnten oft gar nicht sagen, was sie denken. Er beklagt die Ausgrenzung von Menschen mit einer abweichenden Meinung. Sie würden nicht eingeladen und hätten keinen Anschluss mehr. Das aber sei ein Instrument des Totalitarismus. Das habe in Deutschland in den letzten Jahren Urstände gefeiert. Kommentar: Nähe zu rechtspopulistischer Rhetorik bzw. AfD-Kernargumentation ist unverkennbar.         

Wo ich Maaßen zustimmen würde:

Den Umgang mit den rechtsextremistischen Phänomenen beim KSK der Bundeswehr durch die Regierung muss man als intransparent bewerten. Eine Ministerin äußert vage Vorbehalte gegen eine ganze Einheit, nennt keinerlei konkrete Vorhalte, und die führenden Medien lassen sich das wochenlang gefallen, ohne selber kritisch nachzufragen. Sie merkt gar nicht, dass sie sich selbst beschuldigt, sondern hängt ihren eigenen Untergebenen pauschal einen Verdacht an.

Wer denn nun eine Schwächung des Staates bzw. der Polizei intendiert, bleibt offen. Auch, was denn falsch sein soll an dem Berliner Gesetz. Es wird munter drauflos assoziiert und ein politisches Bauchgefühl (linke Staatszersetzung) rechtspopulistisch eingerahmt. Hoch unseriös. Warum die Reihe „Einblick“ heißt, weiß ich nicht – wir haben keinen bekommen. „Einfühl“ wäre treffender. Wenn alle Ausgaben so sind, ist das ein reiner Meinungskanal mit ideologischer Schlagseite. 

Die Rechten und das Virus

Man hätte glauben können, dass die Corona-Krise der politischen Rechten in die Hände spielen würde. Endzeitstimmungen rufen eigentlich immer alle Sorten von Gauklern, Propheten, Gesundbetern und Demagogen auf den Plan. Auch die Coronazeit wird, während sie noch läuft, allenthalben munter gedeutet: als Tal der Tränen, als Zäsur in der Menschheitsgeschichte, als Errichtung einer Weltherrschaft, als Rückkehr zu sich selbst, als Abdankung des Westens, als Neustart einer endlich gerechten Sozialpolitik.

Aber de facto ist das Virus dem europäischen Rechtsextremismus nicht gut bekommen. Die Rechten befinden sich in einem mehrfachen Dilemma: Der Staat hat von sich aus Stärke gezeigt und Freiheitsrechte eingeschränkt – das ist eigentlich i h r Programm. Sie können, um sich abzugrenzen, schlecht für eine individualistische Ignoranz gegenüber der Pandemie plädieren. Das wäre im allgemeinen Verständnis nicht „rechts“, sondern einfach nur blöd – und fatal, wenn man z.B. nach Amerika schaut. Rechte Demagogen sind eigentlich immer dafür zu haben, ein Verschwörungsnarrativ zu basteln. Sie würden aber in einer naturwissenschaftlich aufgeklärten Öffentlichkeit auch wieder nur als die letzten Deppen dastehen, wenn sie die Gefahr der Pandemie kleinreden würden, wie es gewisse radikal-religiöse Kreise ja tun.

In einem Diskurs, der zum Schutz der Gesundheit auf technisch-instrumentelle Vernunft setzt, finden politische Krakeeler irgendwie keinen Platz. Wenn das Robert-Koch-Institut wochenlang den Ton angibt, wird die ganze Politik furchtbar rational, selbst wenn noch kein Gegenmittel da ist und wir „auf Sicht fahren“ müssen. Ist das Virus ein „Feind“? Ja und nein. In der Rhetorik der eindringlichen Gesundheitsaufklärung wird es vielleicht zu einem. Aber ein rechtes Feindbild lässt sich an ihm nicht aufziehen. Die Weltgesellschaft ist von einer Pandemie betroffen und generiert als Weltinformationsgesellschaft ein Weltwissen. Es gibt einen weltweiten Austausch von Theorien, Medizinkompetenz und Hilfsmitteln. Die Systeme beobachten sich gegenseitig; die Pandemiebekämpfung wird zu einem Monitoring der nationalen Gesundheitssysteme. Keine Chance für Mummenschanz. Kulthandlungen sind nur noch Orte der Ansteckung. Trotz aller Erschütterungen des gesellschaftlichen Lebens scheint kein Raum vorhanden zu sein für eine „rechte“ Politisierung der Situation.

Es ist offenbar kein Zufall, dass – wie die französische Tageszeitung Le Monde vor ein paar Wochen berichtete – seit März überall in Europa der Zuspruch für Rechtsextreme schwindet.

Hasspolitik heute und die Antwort der Grünen

Was ist das Spezifikum eines digitalen Rechtspopulismus? Kann man Extremismusprävention betreiben, ohne mit Rechten zu reden? Wenn es Hass in der Politik gibt, was heißt dann Liebe? Welche Strategien und Methoden gehören zu einer Politik gegen rechts, die sich von Grundrechtsklarheit leiten lässt?

Auf einer Wahlkampf-Veranstaltung der Grünen in Hamburg-Bergedorf am 30.1.2020 habe ich zu diesen und anderen Fragen Stellung genommen.