Nahles und Kramp-Karrenbauer: Gestört ist die emotionale Bindung zwischen Führungsfigur, Parteibasis und Wähleröffentlichkeit. Die Volksparteien kommen mit der Emanzipation ihres Publikums nicht mehr zurecht. Es wäre zu einfach, die sich immer deutlicher abzeichnende Bindungsstörung nur mit Schwächen der handelnden Personen zu erklären.
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Denkfiguren als Ösen für Populisten
Meine These ist, dass es die europäische Demokratie zukünftig mit eher niedrigschwelligen Formen von Menschenrechtsfeindlichkeit zu tun bekommen wird, die unter der Messlatte für Extremismus liegen, aber nichtsdestotrotz die freie Gesellschaft bedrohen. Deshalb erscheint es mir ebenso reizvoll wie notwendig, populäre Denkgewohnheiten kritisch unter die Lupe zu nehmen und auch die Frage zu stellen, welche gesellschaftlichen Kräfte sie bedienen und verstärken. Damit wird die Auseinandersetzung mit den Feinden eines humanen Zusammenlebens noch eher zu einer Bildungsanstrengung und weniger zu einer Angelegenheit staatlicher Repression.
Greta und die Mächtigen
Die schwedische Schülerin Greta Thunberg ist, als zornige junge Klima-Aktivistin, im Handumdrehen zur einer internationalen Symbolfigur geworden. Ihr Alleingang offenbart Mut und Trotz, und ihre Rede vor der Mächtigen der Welt in Davos stört die fade gewordene Rhetorik der Zuversicht. Greta fordert ihre Zuhörer zur Panik auf. Und sie macht ihnen ein schlechtes Gewissen, indem sie fragt, was sie dereinst ihren Kindern und Enkeln erzählen soll, wenn diese ihr vorwurfsvoll sagen: Ihr habt es doch gewusst.
Das sitzt. Das multipliziert sich über die digitalen Netze. Die Erregungswellen animieren Massendemonstrationen von Jugendlichen in zahlreichen Ländern. Zu offenkundig scheint das Versagen der Eliten. Zu gut informiert ist die junge Community mittlerweile. Greta ist keine Demagogin. Sie erzeugt keine feindseligen Emotionen. Sie malt uns kein ausgedachtes Monster. Was sie aufgreift, ist eine weltweite Sorge, erhärtet durch Evidenz, wissenschaftlich untermauert und um Szenarien ergänzt.
Hier entfaltet sich Bildung für eine demokratische Gesellschaft in der ganzen Spannbreite: vom mutigen Vorpreschen des Schulmädchens über die mediale Aufmerksamkeit bis zur internationalen Solidarität. Daran sind politische Aspekte und Charakteristika, an denen wir lernen können. Drei wichtige seien hier genannt.
Erstens. Zu den demokratischen Tugenden zählt, im Engagement persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Eine Bestrafung für das Schulschwänzen am Freitag. Greta wagt es. Sie handelt zunächst allein und nimmt trotzig das Risiko ihrer Selbstisolation auf sich. Gerade dadurch wird sie Vorbild für viele, und aus den ihr zuströmenden Sympathien entsteht eine Bewegung. Das zeigt, dass man auch als schwaches Individuum politisch etwas in Gang bringen kann.
Zweitens: Gretas Handeln ist zutiefst rational. Es speist sich aus einer pragmatischen Einsicht in die Unverantwortbarkeit des Umgangs mit dem Planeten. Sie argumentiert mit knallharten Fakten und führt die Priorität ökonomischer Ziele ad absurdum. Kein Wunder, dass sie deshalb von denjenigen angegriffen wird, die die Politik bloß als die Magd der Ökonomie betrachten. Sie bekennt Farbe – gegen einen zerstörerischen Mainstream.
Drittens: Greta zeigt den Weg von der Angst zur Aufklärung. Sie liefert den Beweis dafür, dass Emotion und Vernunft keine Gegensätze sein müssen. Die von ihr erzeugte Bewegung ist ein humanes Gegenmodell zu entmündigenden Formen der Angst-Politik. Die Sorge um die Zukunft des Planeten ist menschenfreundlich, weil es auch um seine Bewohnbarkeit geht. Sie ist auf eine besonders radikale Weise inklusiv und delegitimiert jede Form von borniert politischem Lobbyismus.
Zwischen den Mühlsteinen der Modernisierung
Es ist falsch, aus der linken Kritik an der Sozialdemokratie die Haltung abzuleiten, dass es egal sei, was mit der europäischen Sozialdemokratie geschehe. Wer die Hoffnung auf ein sozialeres Europa hat, muss sich Sorgen machen angesichts des frappierenden Niedergangs der sozialdemokratischen Parteien. Dabei geht es nicht nur schnöde um die parlamentarische Mehrheitsbildung. Es geht um die Frage der zukünftigen Sozialordnung und die Gewährleistung eines inneren Friedens in der Europäischen Union.
Der Mob und sein Raum. Anmerkungen zu Chemnitz
In den Chemnitzer Ereignissen kündigen sich Perspektiven einer Konfliktentwicklung an, die uns Sorgen machen müssen. Unter anderem geht es um das Zusammenwirken von ganz verschiedenen Faktoren: verantwortungslose Regierungspolitik, abgehängte Bevölkerungen, die Mobilisierungsfähigkeit rechtsextremer Netze und die spezifische Leere öffentlicher Räume in Ostdeuschland. Hierzu ein Analyseversuch:
Jugendaustausch mit Failing Democracies?
Mit der Krise der europäischen Demokratie stehen wir im internationalen Jugendaustausch immer mehr vor neuen, heißen Fragen. Wie wollen wir z.B. mit ungarischen, polnischen, türkischen oder russischen Partnern in der Pädagogik umgehen, ohne einerseits die Grundwerte europäischer Rechtsstaatlichkeit zu verraten oder andererseits Konflikte zu provozieren, die die Völkerverständigung beschädigen? Allzuleicht kann auf diesem Feld die Zusammenarbeit zu einem belanglosen Eiapopeia werden.
Eine seltsame Schwäche
In der Auseinandersetzung mit antidemokratischen Strömungen und Positionen erleben wir in unserem Lande immer wieder eine sonderbare Unstimmigkeit. Viele, die gegen völkischen Rassismus oder religiösen Fanatismus kämpfen, verstehen sich als Verteidiger von Freiheit und Emanzipation, sind aber häufig so staatsfern oder gar -phob, dass sie ihrem Gegenüber das Funktionieren einer demokratischen Ordnung nicht erklären können. So bleibt die von ihnen verteidigte Freiheit dann ziemlich abstrakt. Oft haben sie gegen den demokratischen Verfassungsstaat sogar handfeste Vorurteile oder suhlen sich in negativen Gefühlslagen, sobald es um „die Politiker“ geht. Diese Vorurteilsstruktur, behaupte ich, schmälert die Überzeugungsfähigkeit erheblich, zumal, wenn die Abneigung gegen den Staat derjenigen fatal ähnelt, die in den antidemokratischen Milieus auch verbreitet ist.
Vielleicht müssen wir in die Geschichte dieses problematischen Bewusstseins zurückschauen. Das versuche ich hier:
Mein Führer bin ich lieber selbst
In meinem politischen Leben habe ich noch nie so oft über das Grundgesetz geredet wie heute. So auch am letzten Montag (19.2.18), im Rauhen Haus in Hamburg, auf einer Bezirksveranstaltung über Religionssensibilität. Ich warnte vor dem exklusiven Wir, geißelte die Sucht nach Identitätsdiskursen von rechts und links und stellte das inklusive, menschenfreundliche Wir dagegen. Aber noch deutlicher unterstrich ich, dass vor dem Wir das ICH kommt, also das Recht des Einzelnen, jenseits aller Kollektivität seinen eigenen Weg zu gehen, und berief mich dabei auf die Freiheitsrechte des Individuums nach Art. 2 GG.
Beim anschließenden Stehtischempfang ging mich ein radikaler evangelischer Pastor hart an. Das sei ja der pure Individualismus! Er hielt die Kraft dagegen, die aus der Gemeinschaft kommt, und bei dem Wort begannen seine Augen zu leuchten. Ich war ganz entspannt, denn ich hatte mir mein Glas Wein und ein Stück Quiche bereits gesichert und hatte keine Lust mehr zu streiten. Aber in mir meldete sich der alte anarchistische Atheist, und ich dachte: Ja, toll, deine Gemeinschaft! Und du, Pastor, führst sie dann in ihrer kindlichen Unschuld als Hirte an, und wenn die Herde in die Schule kommt, übernehmen wir als Pädagogen den Stab. Ein inklusives Wir zwar, alle fühlen sich wohl, singen miteinander und fassen sich an den Händen, aber einer führt es – ganz göttlich. Nein, danke! Auf diese Machtkonstruktion habe ich keine Lust. Die war mir schon beklemmend, als ich noch dreizehn war und in einer Jungschar in Ostfriesland das Charisma eines Jugendpfarrers erlebte. –
Die kleine, kurze Kontroverse am Stehtisch in Hamburg-Horn hat mich mal wieder in meinem urdemokratischen Misstrauen gegen alle Seelsorge und Knabenführung bestärkt. Und da bin ich dann auch sehr gern der unverbesserliche Individualist, dem heiliger als alle Offenbarungen der Satz ist: Der Mensch ist frei geboren.
Kurt Edler
Wir schaffen euch
Seitdem die AfD im Bundestag sitzt, ist für sie irgendwie die Luft raus. Ihre Ausschussvorsitzenden werden mit dem politischen Rollator in ihr Amt eingeführt. Sie können es nicht ohne Gehhilfe. Man hilft ihnen distanziert, aber fair. Doch hüten wir uns vor Überheblichkeit. In die Hamburgische Bürgerschaft bin ich 1984 als Fundi eingerückt, und als Realo kam ich wenig später heraus. „Parlament“ kommt von „parlare“, reden – und manchmal fand ich die Argumente der Konkurrenz einfach einleuchtender als unsere eigenen von der GAL. Warum will ich den AfD-Abgeordneten in Bund und Ländern nicht auch diese heilsame Erfahrung gönnen?
Gewiss, sie müssen sich entscheiden. Sie können auf der Bundestagstoilette sitzend kleine Hakenkreuze an die Kabinenwand malen – aber wie lange wird das Spaß machen? Andreas Klärner hat vor etlichen Jahren dem deutschen Rechtsextremismus sein eigenes Dilemma vor Augen geführt – in A-Stadt, „zwischen Militanz und Bürgerlichkeit“. Militanz verliert. Der AfD sitzt eine historische Kette von rechten parlamentarischen Pleiten im Nacken. REPs, DVU und NPD haben sich gezankt, beschimpft, beklaut und sogar geschlagen – bis zum bitteren Niedergang. Einfach Kotzbrocken. Für die Debatte waren sie fast immer zu blöd.
Wählt die AfD den Weg des Hakenkreuzes, so hat die deutsche Demokratie eine geniale Mischung aus strafrechtlicher Bekämpfung, politischer Aufklärung, Erinnerungskultur und moralischer Ausgrenzung für sie bereit – ein so scharfes Instrument, wie sie kein anderes Land der Europäischen Union bereithält. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass es nicht so kommt. Der verführerische Reiz der parlamentarischen Deliberation ist nicht zu unterschätzen. Und „über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Kleist) sind schon viele Choleriker gestolpert. Deshalb dürfen wir vielleicht, in den abgewandelten Worten unserer Kanzlerin, der AfD ganz cool sagen: „Wir schaffen euch.“ Nicht wahr, Herr Gauland? Ihr Name ist doch Programm. Am Ende ein Land ganz ohne Gaue. Ein besseres Deutschland.
Aus Ärger abbestellt
Wer durch politischen Hass getrieben wird, schäumt leicht. Schaum kann man erzeugen. Als politischer Provokateur liebe ich es, Leute zum Schäumen zu bringen. Streit ist für mich der wahre Genuss. Diskussion ist für mich wie eine Sportart. Wie zum Beispiel neulich, als…