Alle Beiträge von Kurt Edler

Born in 1950. Teacher in Hamburg 1977-2004. Activist and co-founder of the Green Party and member of parliament in Hamburg 1984-86 and 1993-1997. Chairman of the German Society of Citizenship Education from 2008 to 2017. German Coordinator in the Council of Europe Programme Education for Democratic Citizenship and Human Rights (2009-2018).

Friedenspädagogik in Zeiten des Dschihad

Ideologiekritische Selbstbeobachtungen eines Friedensbewegten

Die großen Friedensdemonstrationen der 1980er Jahre gehören zu den wichtigen politischen Ereignissen in meinem Leben. Es war ein wunderbares Gefühl, mit so vielen Menschen in einer ganz elementaren Frage einig zu sein, ob im Bonner Hofgarten oder auf dem Hamburger Rathausmarkt, wo ich einst so eng eingekeilt zwischen den Mitdemonstranten stand, dass ich die Beine anziehen konnte, ohne hinzufallen.

Als grüner Bürgerschaftsabgeordneter empfing ich in diesen Jahren mit Kollegen anderer Fraktionen ab und zu FDJ-Besuchergruppen, und wir diskutierten mit ihnen über die gegenseitige Bedrohung durch Interkontinentalraketen wie SS 20, Cruise Missiles und über Abrüstung. Wenn die Besucher ein bisschen Vertrauen zu ihrem Reiseleiter hatten, …

Hier der ganze Text:

KE Friedenspädagogik in Zeiten des Dschihad 07aug15

Ganz normal

„Für mich ist Lehrer ein ganz normaler Job. Die Schule ist wie eine Firma, und der Schulleiter ist der Boss. Er hat das Sagen. Klar, anders läuft es ja auch nicht. Ich mache meine Arbeit, aber das war’s dann auch. Einige in unserem Kollegium reden immer von ‚Demokratie‘. Die wollen immer, dass wir uns ‚einbringen‘ und unsere Meinung sagen. Warum eigentlich? Ich will mir doch nicht den Mund verbrennen. Wenn die Leitung sieht, dass das, was sie macht, nicht klappt, dann wird sie sich schon korrigieren, oder sie kann sich Hilfe holen. Das müssen wir doch nicht machen! Dafür gibt es doch die vielgerühmten Unterstützungssysteme. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet ich mich da einmischen soll. Das ist doch gar nicht meine Aufgabe! Der Schulleiter beurteilt mich. Wenn ich ihm mal richtig die Meinung gegeigt habe, weiß ich doch gar nicht, ob sich das am Ende rächt.“

Wir haben hier das fiktive Verbalporträt einer Lehrernachwuchskraft skizziert. Dem Typus jedoch begegnen wir jeden Tag. An ihm verzweifeln sogar die Schulleiterinnen und Schulleiter selbst. „Da stehst du dann und sagst zu ihnen: ‚Ich würde gern von Ihnen wissen, ob Sie an meiner Entscheidung etwas auszusetzen haben‘. Und du siehst ihnen sogar an, dass es so ist. Aber sagen tun sie nichts. Und dann weißt du gar nicht mehr, wie du weitermachen sollst.“

Eine junge Lehrerfortbildnerin ärgert sich darüber, dass die Schulbehörde die Abituraufgaben nach der Prüfung zwar innerhalb der Schulen weiterreicht, jedoch nicht an diejenigen, die die Lehrer fortbilden sollen. Sie entwirft einen freundlichen Beschwerdebrief, in dem ganz konstruktiv auf die Notwendigkeit hingewiesen wird, dass Lehrerfortbildner erfahren, was in den Prüfungen „dran“ war. Denn sie sollen ja schließlich die Lehrkräfte auf die Prüfungsdurchführung vorbereiten. Sie sucht nach Unterstützung – aber niemand möchte mit unterschreiben.

Kurt Edler

Paris als Hauptstadt der Freiheit

Zum Symbol der internationalen Protestkundgebung von 1,5 Millionen Teilnehmern in Paris gegen die Auslöschung der Charlie-Hebdo-Redaktion am 7. Januar wird der Bleistift. Es ist der Bleistift des Karikaturisten, mit dem dieser den Propheten verhöhnt hat. Kaum dass die Bluttat geschehen war, tauchen zahlreiche Karikaturen auf. So auch heute auf der Demonstration mit 50 Staatsoberhäuptern und Demokratiefans aus der ganzen Welt. Ein Sturmgewehr – und ein Bleistift, der sich ihm trotzig entgegenstreckt. Ein zerbrochener Bleistift in einer Blutlache, und um ihn herum eine Un-menge neuer Bleistifte. „On continue“, sagt ein Plakat auf der Demo. Die Demonstranten identifizieren sich mit der Redaktion – „Je suis Charlie“ wird zur Weltparole der freien Gesellschaften. Wir machen weiter. Bundespräsident Gauck schloss seine Beileidsbekundung mit den Worten „Wir sind Charlie“. Allein 3,3 Millionen Menschen demonstrieren in Frankreich.
Dass ein Massaker eine Welle künstlerischer Kreativität auslösen kann, ist nicht selbstverständlich. Hier liegt es nahe. Anders als am 11. September 2001, wo die wirtschaftlichen und militärischen Symbole einer Supermacht angegriffen wurden – mit zweifellos viel höherem Blutzoll – zielte der Überfall auf die Charlie-Hebdo-Redaktion auf das Allerheiligste der Demokratie: die Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit. Es war ihr Humor, ihr Witz, ihre Satire, die dem Team um Charb zum Verhängnis wurden. „Morts de rire“, sagt ein Demoplakat. Vor Lachen gestorben. Ein makabrer Doppelsinn. Dass die Banalität einer Karikatur ein solches Ausmaß mörderischer Energien freisetzen kann, erscheint absurd. „Ein Bild verdient tausend Worte, aber nicht den Tod.“ Und selbstbewusst verteidigt sich der kritische Geist gegen den dumpfen Terror der Gewalt: „Was fließen muss, ist Tinte, nicht Blut.“ („C’est l’encre qui doit couler pas le sang.“) In der Bewertung bleiben die Täter nicht ungeschoren, aber selbst dies wird in einen Witz gekleidet: C’est dur d’être tués par des cons“ – es ist hart, von Dumpfbacken umgebracht zu werden.
Am knappsten fasst das Gefühl der sich aufbäumenden Intelligenz ein Schild zusammen, auf dem steht: „RIRE BORDEL DE DIEU“. Dieu, Gott, das ist sinnig, es geht schließlich um religiösen Extremismus. Übersetzen könnte man den Spruch etwa mit: „Gott verdammt nochmal, hört bloß nicht auf zu lachen.“
Die Demonstrationsteilnehmer drücken ihre Solidarität aus, indem sie sich mit den Opfern vom 7.1. in der Redaktion und vom 8.1 in dem jüdischen Laden an der Place de Vincennes identifizieren: Je suis Charlie – Je suis juif – je suis flic (Ich bin Charlie, ich bin Jude, ich bin Polizist). Das Terrorquartett hat drei Ziele im Visier gehabt: Redakteure, Ordnungshüter und zufällige Kunden des Supermarkts. Judenhass, Hass auf den Staat und Hass auf die Karikaturisten waren ihre Motive. Damit bringen sie gegen den Islamismus die breitestmögliche Allianz auf die Beine, die Europa, Afrika und der Nahe Osten bisher gesehen haben.
Erdoğan fehlte übrigens. Inzwischen gibt es eine weltweite Irritation unter demokratischen Journalisten, wie mir ein Auslandsprofi vom „Spiegel“ erzählte. In AKP-nahen Zeitungen hat es schon am Tag nach dem Anschlag auf das Satireblatt viele Stimmen des Verständnisses und der Unterstützung für die Terroristen gegeben, von der Art wie: „Die Karikaturisten, die unseren Propheten beleidigt haben, sind tot.“ Zu dieser politischen Orientierung passt, dass offenbar das vierte Mitglied der Terrorgruppe ungehindert über die Türkei nach Syrien ausreisen durfte.

Die „Türkiye“ schreibt von einem bestellten Anschlag. Die „Akit“ behauptet, dass es eine Provokation gewesen sei, um Muslime zu verunglimpfen. „Milli Gazete“ bezeichnet Paris als Hauptstadt der Dunkelheit, und „Yeni Asya“ sagt: „Es ist immer die gleiche Inszenierung“. – Der Fernsehsender Al Yazeera bringt es fertig, über 20 Minuten von der Pariser Demonstration zu berichten, ohne das Motiv der Terroristen zu nennen. Auch die Freiheit des Karikaturisten wird wegretuschiert. Der Bleistift kommt nicht vor.

Kurt Edler

R 89 Paris als Hauptstadt der Freiheit

Wenn der Krieg zu dir kommt

Zu Zeiten der alten politischen Weltordnung erfanden die Gegner der atomaren Konfrontation der beiden Blöcke einen sinnigen Spruch: „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Wir skandierten ihn, heiter und schelmisch, auf unseren Demos und am Rednerpult. Er enthielt eine Anspielung auf die fatalen Massenmobilisierungen des letzten Jahrhunderts und bot eine Alternative: Desertion als listige Zivilität. In der Betrachtung jener Geschichte hatten wir ein Verständnis entwickelt, demzufolge die Gefahr von den Staatsmächten ausgeht und die Völker die Leidtragenden sind. Das Böse kam sozusagen von oben, nicht von unten.

An der Wiege der Demokratiepädagogik steht, in den frühen 1990er Jahren, jedoch eine Serie erschreckender Ereignisse, die – nach der Aufweichung der Weltlager – dieser Geschichtsphilosophie widersprachen. Ein rechtsextremer Mob, der nicht vom Staat befohlen war und, im Osten, die Haut der sozialistischen Persönlichkeit unversehens abgestreift hatte, kam „aus der Mitte“ der Gesellschaft zum Vorschein und tobte sich aus.

Wir mussten so rasch handeln, dass wir offenbar keine Zeit hatten, unseren theoretischen Überbau zu überprüfen. Eigentlich hätte uns das Phänomen auch in dieser Hinsicht nachdenklich machen müssen. Denn die Gewalt kam aus dem Volke, mit pathetischem Dativ auf „-e“. Dasselbe Volk hatte sich erst zwei Jahre zuvor als friedlicher Selbstbefreier gefeiert. Oder war es ein anderes?

Als wir Jahre nach dem Start des BLK-Programms „Demokratie lernen und leben“ auf den inzwischen angehäuften Schatz an Handreichungen und Materialien zurückblickten, entdeckten wir drei große thematische Lücken. Erstens kam die DDR-Geschichte nicht vor. Zweitens fehlte die Dimension der Interkulturalität. Und drittens gab es fast keine politischen Analysen des Rechtsextremismus.

Die Demokratiepädagogik, die auf dem Geschehen nach der Wende aufsetzte, verstand sich als präventiv in dem Sinne, dass sie – in kritischer Abgrenzung zu einer offensichtlich wirkungslosen politischen Schulbildung – dem, was wir im weitesten Wortsinne unter Demokratie verstehen, durch eine wirksamere Pädagogik den Rücken stärken wollte. Aber sie verstand sich, politisch, selber auch als eine Erzeugerin demokratischer Praxis und demokratischer Strukturen. Ihre politische Normativität war so überbordend, das sich in spröden Wissenschaftlerkreisen dagegen eine Art protestantischer Allergie entfaltete, deren Symptome allerdings mittlerweile deutlich abklingen.

Präveniert werden sollte, aus dem Selbstverständnis der damaligen Akteure, einer Schädigung der Demokratie durch eine Schule, die sich formal als demokratisch erklärt, es aber in Wirklichkeit nicht ist. Jede neue junge Generation soll, aus der Sicht der Demokratiepädagogik, das Recht und die Möglichkeit haben, sich diejenigen Kompetenzen anzueignen, die die Demokratinnen und Demokraten von morgen brauchen. Das ist eine universelle, frühe Prävention, die nicht darauf wartet, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die Schule, in der sie sich abspielt, muss sich – so das Credo z.B. der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik – als Lern- und Lebensort anbieten, an dem Demokratie erfahrbar wird. Die Hindernisse dafür liegen, so sahen und sehen wir es, im System. Die Konsequenzen sind eine Pädagogik mit reformerischem Mut und systemischer Intelligenz sowie eine Bildungspolitik, die die Krusten eines antiquierten Schulverständnisses und eines institutionalistischen Demokratiebegriffs aufsprengt. Bei diesem Bemühen ist die Demokratiepädagogik ein gutes Stück vorangekommen, und sie hat dabei mächtige Partner als Freunde gewonnen.

Aber die Zeiten ändern sich. Die Globalisierung kultureller und religiöser Konflikte ist im Klassenzimmer angekommen. Alte Welterklärungen greifen nicht mehr. Wo sie dennoch trotzig weiter vorgetragen werden, wirken sie verharmlosend. Wir sind verunsichert. Ein Akteur von Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit tritt auf, mit dem wir nie gerechnet hätten: das Kind. Es sagt der fassungslosen Lehrerin ins Gesicht: „Ich brauche keine Freiheit. Ich habe meinen Glauben.“ Es teilt seine Klasse in Muslime und Christen ein und ordnet ihnen eine unterschiedliche Wertigkeit zu. Ungleichwertigkeitsvorstellungen, bekanntlich immer ein Spezifikum totalitärer Ideologien, machen sich in ganz neuen Formen breit. Damit einher geht bei radikalisierten Schülern die beredt vorgetragene Ablehnung von Demokratie als politischer Ordnung und Lebensform und die Rechtfertigung von Terror und Massenmord. Ein Zwölfjähriger wirbt auf seiner Facebookseite für den IS.

Was wir derzeit in den Metropolen beobachten, stellt die Demokratiepädagogik vor ganz neue Herausforderungen. Schulgemeinschaften geraten in Aufruhr. Ein sich als religiös wähnendes Mobbing greift um sich. Die Abwehrreaktionen lassen nicht auf sich warten. Der innere Frieden der Schule steht auf dem Spiel, und die Hilflosigkeit staatlicher Instanzen ist offenkundig, zumal die Auseinandersetzung sogar schon manche Grundschulen erfasst.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung steht die Demokratiepädagogik vor einer neuen Herausforderung. Sie muss ihren blinden Fleck der innergesellschaftlichen Widerspruchsentwicklung überwinden und präventive, aber auch interventive Konzepte zur Abwehr von Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit entwickeln.

Kurt Edler (20.12.2014)

KE, Wenn der Krieg zu dir kommt 20dez14

Schulfrieden

Die neunte Klasse ist allein im Raum. Markus und Oliver balgen miteinander. Es wird etwas heftig; es ist nicht mehr so richtig Spaß. Sie halten sich fest, starke Jungs, inzwischen eins siebzig groß. Die Klasse lacht. Irgendwie landet Markus’ Hand knapp unterhalb von Olivers rechtem Auge. Es schwillt recht schnell zu. Außerdem hat er eine leichte Hautabschürfung. Einige Schülerinnen sagen: „Oha.“

Die Lehrerin kommt und ist entsetzt, als ihr Oliver so entgegentritt. Sie lässt sich den Vorfall von ihm erklären. Eine Disziplinarkonferenz wird anberaumt. Die Eltern beider Jungen werden informiert. Markus soll einen schriftlichen Verweis bekommen und erhält die Auflage, an einem Anti-Gewalt-Training teilzunehmen. Seine Eltern sind fassungslos. Ihr Sohn hat noch nie etwas angestellt und gilt als ruhig und freundlich. Sie intervenieren beim Elternvertreter der Klasse. Da Markus wegen Leistungsproblemen die Schule wechseln möchte, wäre ein schriftlicher Verweis in seiner Akte für ihn gerade jetzt sehr nachteilig.

Einer Aufforderung, bei der Schulleitung vorstellig zu werden, kommen die Eltern nicht nach. Stattdessen kündigen sie einen Widerspruch gegen den Konferenzbeschluss an. Der Elternvertreter versuchen mit der Klassenlehrerin Kontakt aufzunehmen. Diese hat jedoch von der Schulleiterin die Anweisung erhalten, in der Sache nicht mehr Stellung zu nehmen, weil die Eltern offenbar den Rechtsweg beschreiten wollten. In den Tagen danach wird Markus wiederholt gedrängt, der Disziplinarmaßnahme zuzustimmen, da „es sonst noch schlimmer kommen“ werde. Er müsse kooperieren. Andernfalls würde eine weitere Konferenz stattfinden. Er könne auch sofort von der Schule verwiesen werden.

Nun setzt die Familie alle Hebel in Bewegung. Nach Feierabend werden im Internet Bundesverwaltungsgerichts-Urteile gelesen, und ein Beamter der Schulbehörde, der Vater einer Schülerin der Klasse ist, wird um Rat gebeten. Die beiden Jungen haben sich derweil auf Facebook miteinander versöhnt. Der Beamte ruft die Klassenlehrerin an und fragt, ob es nicht besser gewesen wäre, sich mit den beiden Jungen nach dem Vorfall erst einmal zusammenzusetzen. Und ob die Maßnahme angesichts der Tatsache, dass Markus noch nie aufgefallen sei und hier offenbar keine geplante Aggression vorliege, nicht doch etwas überzogen sei. Die Klassenlehrerin ist sich nicht sicher, ob sie überhaupt antworten darf, weist auf ihre Verschwiegenheitspflicht hin und bleibt im Allgemeinen.

Im weiteren Verlauf entwickelt sich zwischen den Ratsuchenden und ihren Beratern ein Email-Dialog, in dem versucht wird, die Klassenlehrerin miteinzubeziehen. Nach Vorliegen der Abmeldung des Schülers von der Schule verzichtet die Schule auf einen schriftlichen Verweis, noch bevor die Vorsitzende des Widerspruchsausschusses der Schulbehörde Gelegenheit zu einer Entscheidung hat.

Auf dem Elternabend im neuen Schuljahr erklärt die Klassenlehrerin, dass sie zukünftig keine Emails an ihre Privatadresse mehr haben möchte. Sie werde auch keine mehr beantworten. Wer mit ihr in Kontakt treten möchte, könne sie anrufen.

R 72 Schulfrieden

 

 

 

Humor als Indikator für Zivilität

Ich sitze im Vorgarten einer Kirche an einer langen Biertischbank, und ein Jude und ein Moslem erzählen Witze über die religiösen Essensvorschriften. Kostprobe: „Steht ein muslimischer Gast bei der Essensausgabe an. Als er dran ist, fragt er die Köchin: ‚Ist in der Erbsensuppe Speck?‘ ‚Och, das geht‘, sagt sie, ‚nur ganz wenig. Die können Sie wirklich essen.‘“

So ging es gestern beim „Dialog auf der Baustelle“ zu, wo die evangelische Kirche in Hamburg-Horn sich ganz überzeugt dafür stark macht, dass ihre Kapernaum-Kirche in eine Moschee verwandelt wird. Eine Kreidezeichnung im Inneren skizziert das zukünftige Aussehen. Von außen soll die Kirche so bleiben wie sie ist; von innen wird sie umgebaut. Die US-Generalkonsulin spricht ermunternde Worte zum Projekt.

Beim Essen ist es leichter Witze zu machen als beim Beten. Wenn man isst, erzählt man sich etwas Persönliches. Ich verrate hier nicht, wer da erzählt hat. Ich sage nur: Es waren zwei hohe Funktionäre der beiden Religionsgemeinschaften. Mit einem emeritierten Pastor im Zwiegespräch bringt mich das auf die wohltuende Rolle des Humors. In Abwandlung einer alten Spruchweisheit könnte man sagen: Wo man Witze macht, da lass dich ruhig nieder / Fundamentalisten lachen einmal und nie wieder. Den jungen Radikalen, mit denen ich in den letzten Monaten spreche, ist eines gemeinsam: Sie sind todernst.

Als Liebhaber der Ideologiekritik beobachte ich in den letzten Jahren gespannt, wie der religiöse Radikalismus das Gesicht der Religion verändert. Und da entdecke ich dann, in der kleinen Broschüre „Religionen: Wege zum Frieden“, die mir von der Hauptkirche St. Michaelis zugesandt wird, ein bemerkenswertes Eingeständnis:

„Religionen halten die großen Friedensvisionen der Menschheit lebendig. Zugleich ist jeder Religion ein alleiniger Wahrheitsanspruch immanent, der Kriege und Feindbilder legitimiert. Insbesondere zwischen der westlich geprägten Welt und dem Islam verfestigen sich heute Feindbilder, mit denen religiöse, politische und kulturelle Dominanzansprüche durchgesetzt werden. Diese Feindbilder zu identifizieren, ist das übergeordnete Ziel des Projektes ‚Wege zum Frieden‘“.

So realistisch sind also die Initiatoren, dass sie den Gedanken wagen, ob es ein geistiges Band zwischen Religion und Krieg gibt, dem man – auch als Religionsgemeinschaft – entgegenwirken muss. Prävention als Mission. Dabei wollen wir anderen, die es eher mit dem unheiligen Descartes halten, gern helfen: De omnibus dubitandum. Denn wie blutrünstig sich entfesselte religiöse Dogmen austoben können, das macht uns IS gerade vor.

Die Reflektivität, die im Humor in Bezug auf die eigene Religion liegt, ist offenbar ein Zivilisiertheits-Indikator.

Kurt Edler

R 86 Der Indikator Humor

Partei als Sorgenkind

Die Partei als Sorgenkind der Demokratie

Manchmal, wenn ich bei meiner Partei in einem Facharbeitskreis oder in einer regionalen Einheit zu Besuch bin, frage ich mich im Stillen, in die Runde schauend: Sind die Anwesenden überhaupt politische Akteure in dem Sinne, dass man mit ihnen etwas Politisches anstellen kann? Sind sie bewegt von dem Entwurf einer „inneren Republik“, als einer ganz persönlichen Interpretation des demokratischen Verfassungsstaats? Wäre ihre politische Individualität auch dort erkennbar, wo sie z.B. vor dem Plenum einer parlamentarischen Körperschaft sprechen? Mit anderen Worten: Sind sie überhaupt politisch authentisch?

Oft bleiben erhebliche Zweifel. Auf der Suche nach den Ursachen für die zu beobachtende Identitätsschwäche bei den Individuen ist es wichtig, sich die Partei anzusehen, in der sie ihr politisches Dasein fristen. Ich erlebe, dass die Leitungen der entsprechenden Gremien oft überhaupt nicht erkennen und auch nicht wissen wollen, welche Kompetenzen sich bei den Versammelten vorfinden. Da sitzen z.B. ein ehemaliger Landesschulrat, ein Schulleiterfortbildner, ein Schulinspektor und eine Lehrerausbilderin bei einer Landesarbeitsgemeinschaft zusammen, und die LAG-Sprecherin ruft als Tagesordnungspunkt die Medienerziehung (!) auf und lässt in aller Breite den behördlichen Bildungsplan referieren. Kostbare Zeit verrinnt. Kein Gespür für Fragen wie: Was heißt Politik in diesem Feld? Wie nutze ich den wertvollen Moment der Begegnung in dieser Runde? Wie kann ich die versammelten Kompetenzen optimal zur Geltung bringen?

Mit fortschreitendem Alter ist mein Gefühl: Ich kann, wenn ich als Demokrat eingreifen will, ohne das Parteihindernis wesentlich mehr persönliche Wirksamkeit entfalten, indem ich punktgenau, adressatengerecht und effizient interveniere und mir, wenn nötig, projektartig jeweils eine adäquate Organisationsform schaffe. Zu Organisationsfragen habe ich längst ein pragmatisches Verhältnis, weil für mich der politische Zweck nicht in der Form liegt. Seit längerem schon empfinde ich den Prozess meiner eigenen politischen Entwicklung als Emanzipation von meiner Partei; und – wie sich in den Dialogen über den Zaun feststellen lässt – so manchem Mitglied anderer Parteien ergeht es offenbar ähnlich.

Man fragt sich dann: Wieviel Kraft will ich darauf verwenden, meine Partei davon zu überzeugen, dass die öffentlichen Diskurse an ihr vorbeilaufen? An die grüne Landesarbeitsgemeinschaft Demokratie, Recht und öffentliche Sicherheit zu appellieren, das Thema „linke Gewalt“ endlich auf die Tagesordnung zu nehmen, nachdem wiederholt betrunkene Demonstrationsteilnehmer schwere Steine auf Menschen geworfen haben, erscheint als fruchtlos. Was wäre denn, wenn man nach unglaublichen innerparteilichen Mühen dort endlich einen Diskussionsabend über dieses Thema durchgesetzt hätte? Er bliebe höchstwahrscheinlich folgenlos. Kein vernünftiger Mensch tut sich jedoch solch eine Anstrengung an.

Aufs Ganze bezogen sind unsere Parteien in diesem Sinne längst zu riesigen Dämpfern demokratischen Engagements geworden, anstatt dasselbe zu fördern. Sie stoßen diejenigen ab, die Politikkompetenzen mitbringen, aber eben auch kompetent genug sind, die Qualität eines Parteigremiums nüchtern abzuwägen. Wenig tröstlich ist es dann, aus grünem Mund zu hören, bei der Konkurrenz sei ja alles noch schlimmer. Das mag stimmen – aber für jemanden, der politisches Kapital mitbringt, ist das nur ein schwacher Trost. Wenn es ihm um die Sache geht, wird er sich nach Alternativen umschauen, um die Ressource seines Engagements zur maximalen Wirkung zu bringen. Das heißt: Es sammeln sich außerhalb der Parteien immer größere Potenziale an Engagement an, und die Parteien wirken im Vergleich dazu retardiert.

Die Welt der demokratischen Öffentlichkeit wird selber pluraler. Sie ist auf die parteiliche Enge nicht mehr angewiesen. Das Beratungsbedürfnis bricht sich andernorts Bahn. Neuerdings tritt der Hamburger Verfassungsschutz als Bildungs-Akteur auf. Kürzlich hat er in den Räumen der Finanzbehörde am Gänsemarkt eine Ausstellung zum Islamismus ausgerichtet und dort zwei öffentliche Podiumsdiskussionen veranstaltet (am 10. und am 24.4.). Podiumsgäste waren Kriminalpräventionsexperten, Journalisten, Wissenschaftler und Bildungsexperten. Das Niveau dieser Diskussionen war hoch; und das lag nicht zuletzt an der Fähigkeit der Besucher, sich auf einen differenzierten Diskurs einzulassen. Es ging um so spannende Fragen wie:

  • Ist Salafismus nur ein vorübergehender jugendlicher „Hype“?
  • Was treibt einen Jugendlichen dazu, eine fanatisch-religiöse Identität anzunehmen?
  • Was kann die Schule zur Deradikalisierung beitragen?
  • Kann der friedfertige Mehrheitsislam ein Bollwerk gegen den Jihad bilden?
  • Oder ist im Koran die Wurzel des Terrors schon angelegt?

Bis auf eine ganz kleine Gruppe von Islamhassern, die auf jeder öffentlichen Veranstaltung mit eigenen Pamphleten auftauchen und wie eine Sekte agieren, war das großstädtische Publikum in der Lage, diese Fragen in einem gepflegten (und vom Leiter des Landesamts für Verfassungsschutz charmant geleiteten) Diskurs zu erörtern.

Das Peinliche ist: Eine Diskussion auf diesem Niveau hat bisher bei keiner Hamburger Partei stattgefunden. Schon gar nicht bei den Grünen. Dort gibt es immer noch eine Strömung, die schon mit dem Begriff Islamismus ihre Schwierigkeiten hat und der noch nie eine politische Bewertung von Al Qaida oder Boko Haram über die Lippen gekommen ist.

Fügen wir diese Facetten zusammen, so lässt sich daraus das folgende Fazit ziehen:

Wir sind Zeitzeugen einer Abwanderung der Parteien in die Randständigkeit einer immer selbstbewussteren, sich entfaltenden Zivilgesellschaft, welche die Freude am freien Austausch von Gedanken ungefiltert erleben will. Wer sich in einem solchen Raum als Angehöriger einer Partei zu erkennen gibt, hat – das zeigt nicht selten das Aufseufzen der Anwesenden – ein Herkunftsproblem.

Einfluss islamistischer Propaganda wächst

 

Wie in allen Ballungszentren Westeuropas lässt sich auch in Hamburg beobachten, dass der Islamismus seinen Einfluss auf Jugendliche vergrößert. Unter Islamismus ist eine radikale, demokratiefeindliche Ideologie zu verstehen, die im Namen des Islam auftritt und die Menschenrechte nicht anerkennt. Seine radikalste Form ist der Dschihadismus. Seine Anhänger rufen zum bewaffneten Kampf auf, und wo sie, wie im Nordirak und in Syrien, zur Macht gelangen, töten sie wahllos nicht nur alle Andersdenkenden, sondern auch Angehörige anderer Religionen.

Über das Internet, aber auch durch verbotene Organisationen wie die Hizb ut-Tahrir werden junge Menschen angesprochen und angeworben. Das geschieht meistens auf privaten Treffen oder sog. „Koran-Lesezirkeln“, wo es scheinbar um Religion geht, in Wirklichkeit jedoch um politische Radikalisierung. So nimmt die Zahl von Jugendlichen und Jungerwachsenen, die in den Nahen Osten ausreisen, um dort die Terrorgruppen von IS und al-Qaida zu unterstützen, zu. Nicht wenige von ihnen kommen dabei um. Andere werden gezwungen, solch schreckliche Verbrechen zu begehen, dass sie schwer traumatisiert zurückkommen.

In Schule und Jugendzentrum ist jedoch auch niedrigschwellig eine religiöse Radikalisierung zu beobachten. Die Weltlage lässt nicht einmal die Kita unberührt. Überall und immer häufiger kommt es zu Fällen konfrontativer Religionsbekundung. Schülerinnen und Schüler führen ihre Religion ins Feld, um sich von anderen abzugrenzen oder die Regeln des Zusammenlebens in Frage zu stellen. Das reicht von der Verweigerung gegenüber bestimmten Fächern und Unterrichtsinhalten und der Forderung nach Gebetszeiten während des Unterrichts bis hin zum religiösen Mobbing gegen Mitschüler, die sich strengen, fundamentalistischen Praktiken nicht unterwerfen wollen. Klassenreisen werden boykottiert. Gegen den Sport- und den Schwimmunterricht werden religiöse Vorbehalte erhoben; Achtklässlerinnen erscheinen in langen Gewändern, die sie daran hindern, sich am Ballspielen und Geräteturnen zu beteiligen. In den allermeisten Fällen steckt hinter diesen Verhaltensweisen ein salafistisches Islamverständnis. Unter Salafismus ist dabei die Auffassung zu verstehen, dass die Muslime zu den Lebensformen der Vorfahren (salaf) aus Muhammeds Zeit zurückkehren müssen und dass der Koran im Wortlaut zu befolgen ist. Dass dasselbe Koranzitat unterschiedlich interpretiert und gelebt werden kann, bestreitet der Salafist. Insofern ist er ein Anhänger einer geistigen und geistlichen Despotie.

Ähnlich wie radikale Anhänger anderer Religionen stellen salafistische Eltern an der Grundschule Selbstverständlichkeiten des schulischen Miteinanders in Frage. Sie verbieten ihren Kindern das Mitsingen und Mittanzen oder das Feiern von Geburtstagen. Kinder solcher Eltern werden im Extremfall einer Zerreißprobe zwischen dem religiösen Dogma und der Schulregel ausgeliefert, die einer gesunden und unbeschwerten Entwicklung abträglich sein kann.

Mit ihrer kämpferischen Verweigerung gegenüber den Lebensformen und Regeln einer freiheitlichen, pluralen Gesellschaft stehen die Salafisten im Widerspruch zu den meisten Moscheegemeinden und ihren Imamen. In nicht wenigen Moscheen haben sie Hausverbot. Die muslimischen Verbände machen sich Sorgen um den radikalisierten Nachwuchs, und sie wissen, dass das Bild des Islam in der bundesdeutschen Öffentlichkeit leidet, je mehr er von einer freiheits- und emanzipationsfeindlichen Strömung missbraucht wird. Nicht wenige muslimische Eltern und Großeltern fürchten, ihre Kinder oder Enkel durch eine Ausreise in den Jihad zu verlieren.

Die Schulen und Jugendzentren der demokratischen Republik sind durch diesen Trend mächtig herausgefordert. Gleichgültig, ob im Einzelfall die Jugendlichen bereits ideologisch verblendet sind oder ob es nur um eine rebellische Phase der Identitätsfindung geht – eine pädagogische Auseinandersetzung mit Fingerspitzengefühl und Empathie, aber auch mit demokratischer Überzeugungskraft ist notwendig. Besonders in Schulen mit einer multikulturellen Schülerschaft sind der innere Frieden und das gute Miteinanderauskommen nur zu bewahren, wenn allen Ansätzen von Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit von Anfang an begegnet wird. Dazu gehört Zivilcourage gegenüber Schülern, die ihre Mitschüler indoktrinieren oder in sektenartige Gruppen schleusen wollen. Zur pädagogischen Professionalität gehört auch, ideologische Muster zu erkennen, die Inanspruchnahme von Religionen für politische Zwecke zu durchschauen und zugleich mit den gefährdeten Jugendlichen in einem intensiven Dialog zu bleiben. Auch „politisch“ wirkende Konfliktlagen haben eine entwicklungspsychologische und interkulturelle Dimension. Lehrkräfte, die sich in solch einer Situation falsch verhalten, wegschauen oder überreagieren, können die Radikalisierung ungewollt vorantreiben.

Daher steht auch die Lehrerbildung vor ganz neuen Aufgaben. Elementares Ziel ist die Grundrechtsklarheit in religiös gefärbten Konfliktlagen. Lehrkräfte müssen fit sein in der Auseinandersetzung mit Positionen, die z.B. zwischen Religionen, aber auch zwischen Mann und Frau eine Ungleichwertigkeit behaupten. Sie brauchen aber auch das nötige politische und historische Wissen, um im Unterricht islamistischer Agitation zu begegnen. Die Fortbildungs- und Beratungsangebote des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung zielen zunächst auf eine Basisinformation inklusive Lagebericht auf neuestem Erkenntnisstand. Dabei geht es um die Früherkennung von Radikalisierungsprozessen genauso wie um den souveränen und unaufgeregten Umgang mit offensiver Religiosität. Reale Konfliktfälle und Biographien werden für die vertiefte, praxisnahe Bearbeitung zur Diskussion gestellt. Schulleitungen und Funktionsträger werden im Sinne einer demokratiepädagogischen Schulentwicklung beraten. Hier wird auch über den Schulzaun geschaut; denn gerade im Schulumfeld und Freizeitbereich spielt sich die islamistische Einflussnahme und Anwerbung ab.

Lust auf Verantwortung

Beteiligung ist ein schwieriges Wort. Wir sollten es nicht benutzen ohne zu erklären, was wir meinen. Gemeint sein kann die Möglichkeit der Mitentscheidung, also ein Stück Macht. Gemeint sein kann aber auch die bloße Einbezogenheit, zum Beispiel durch die Transparenz eines Verfahrens, auf das mir – wenn auch selber außen stehend – ein Blick gewährt wird. Und gemeint sein können alle Stufen dazwischen. Schulforscher und Demokratietheoretiker haben dazu ganze Modelle entwickelt und unterscheiden Grade der Partizipation[1], echte und unechte Beteiligung.

Die neue Demokratie

Unsere Demokratie ist heute nicht die gleiche wie Ende der achtziger Jahre. Das Bedürfnis nach Mitentscheidung hat sich in vielerlei Hinsicht Bahn gebrochen. Die Gesellschaft der aufgeklärten Republik ist mit dem Staat in einen Wettstreit getreten. „Demokratische Legitimität“ ist heute nicht mehr so leicht zu behaupten wie vordem. Staat und Parteien sehen sich ständig der Kritik einer selbstbewussten Öffentlichkeit ausgesetzt; Gegenöffentlichkeiten bilden sich sehr viel leichter heraus. Was politisch richtig, was moralisch gerechtfertigt ist, ist viel umstrittener als früher[2]. Die Internetgesellschaft erschwert dabei die Monopolisierung der Meinungsbildung und öffnet der Einmischung vom privaten Gerät aus beträchtliche Möglichkeiten.

So erschien Partizipation noch vor zehn, fünfzehn Jahren als Inbegriff einer neuen demokratischen Epoche. Große Mitspieler wie z.B. die Bertelsmann-Stiftung und das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, jedoch auch eine Unzahl kleiner, äußerst wirksamer Akteure sorgten für ein Umdenken. Kinderrechts- und Mitwirkungs-Profis halfen dabei. Informationsfreiheit und plebiszitäre Formen der Beteiligung fanden ihren Eingang in Landesgesetze, Kommunalverfassungen und Parteistatuten. Die reine Zuschauerdemokratie der frühen Bundesrepublik gilt immer mehr als ein bloß paternalistisches Vorstadium zu einer wirklichen Demokratie. Was eine gute Demokratie ist, ist eine Frage, die sich heute an weitaus anspruchsvolleren Qualitätskriterien bemisst als früher.

Partizipation ist dabei eine, aber nicht die einzige Form des demokratischen Handelns. Kritik, Protest, Polemik, Streit, Mobilisierung, Parteiung, Kandidatur und Wettbewerb sind andere elementare Formen. Sie alle zusammen unter „Partizipation“ zu fassen, tut der Sache keinen Gefallen, und dem Begriff auch nicht. Es macht ihn unscharf. Im permanenten Widerstreit der Werte und Interessen, der eben nur in der Demokratie ausgetragen werden kann, verliert der Begriff Partizipation noch aus einem anderen Grunde etwas von seinem ursprünglichen Glanz. Mächtige Gruppen der Gesellschaft betreten neben den Parteien die politische Bühne und schicken sich an, partikulare Interessen gegen die in der parlamentarischen Vertretung verkörperte Allgemeinheit durchzusetzen. Sind sie erfolgreich, tritt[3] eine Ernüchterung derjenigen ein, die die gesteigerte Bürgerpartizipation mit einem „Volksabstimmungsgesetz“ installiert hatten. Sind sie, wie bei Stuttgart 21, als bürgerliche Protestbewegung letztlich unterlegen, so kehrt auch damit die selbstorganisierte Partizipation auf den Teppich der politischen Realitäten zurück[4].

Kommt die Schule mit?

Wie auch immer wir das Verhältnis zwischen Parlament und Plebiszit austarieren, eines ist klar: Es gibt kein Zurück zu den alten Verhältnissen. Der kritische Blick richtet sich hierbei nicht nur auf das Zentrum der Willensbildung, das Parlament, sondern genauso auf jene Einrichtung, die den Auftrag und Anspruch hat, alle Kinder und Jugendlichen zu einer demokratischen Verantwortungsübernahme zu erziehen: die Schule.

In ihren Schulgesetzen formulieren die Bundesländer diesen Auftrag und Anspruch aus – in jeweils verschiedener Weise. Das steht ganz am Anfang, in der Regel in § 1, und liest sich meistens gar nicht so schlecht. Schauen wir dann aber die folgenden Paragraphen über die Struktur des Schulwesens und seine verfassten Organe an, tut sich ein sonderbarer Widerspruch auf. Uns stellen sich dann Fragen wie:

  • Kann die Schülerin, kann der Schüler jene demokratischen Handlungskompetenzen, die das Schulgesetz hochhält, in der gegebenen Schulstruktur überhaupt erwerben?
  • Definiert das jeweilige Schulgesetz die Schule als einen nicht nur formal demokratischen, sondern demokratieförderlichen Ort, an dem Demokratie erlebt und gelebt werden kann?
  • Ist das Gesetz auf ein Erblühen der schulischen Demokratie ausgerichtet und auf eine Verantwortungsübernahme seiner Träger für eine Engagement-Förderung an der Schule?

Leider lassen sich diese Fragen nur verneinen. Landauf, landab klagen Schülervertreter und Schülertrainer darüber, wie sehr die bundesdeutsche Schülermitwirkung in einer Agonie liegt. Bei den Elternvertretungen sieht es in aller Regel kaum besser aus. Von einer florierenden Demokratie kann an den meisten Schulen kaum die Rede sein. Oft wird händeringend nach Freiwilligen gesucht. Nach langem Zureden lässt sich jemand breitschlagen. Eine echte Wahl zwischen mehreren Bewerbungen ist meistens nicht möglich. Schülerpartizipation hat oft den Charme eines kahlen Raums, der vom Hausherrn mit den Worten übergeben wird: „Macht es euch gemütlich.“ An der Türschwelle stehen ratlos die Demokratinnen und Demokraten von morgen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat als Mitgliedsstaat des Europarats eine Charta für Demokratie- und Menschenrechtserziehung unterzeichnet, in deren drittem Teil es unter der Überschrift „Democratic Governance“ heißt:

„Die Mitgliedstaaten sollten demokratische Führung in allen Bildungsinstitutionen nicht nur als eine wünschbare und nutzbringende Führungsmethode per se fördern, sondern auch als ein praktisches Mittel, um Demokratie und Respekt vor den Menschenrechten zu lernen und zu erleben. Sie sollten, mit den geeigneten Mitteln, die aktive Beteiligung der Lernenden, des Bildungspersonals und der verschiedenen Interessenvertreter, einschließlich der Eltern, an der Führung der Bildungsinstitutionen ermutigen und begünstigen.“[5]

Diese Selbstverpflichtung hat sich in deutschen Schulgesetzen bisher nicht niedergeschlagen, und in der Praxis der Schulen wird sie nur wenig umgesetzt.

Warum ist der Raum so kahl?

Die Gründe sind vielfältig. Die deutsche Schule ist immer noch eher eine Beamten- als eine Bürgerschule. Die Entscheidungsbefugnisse der Gremien sind begrenzt. Schulleitungen und Schulaufsichten können den ihnen nicht genehmen Voten widersprechen. Oft steht über einem Ausschuss mit gleichen Anteilen von Schülern, Eltern und Lehrkräften eine Gesamtkonferenz mit einem erdrückenden Gewicht des Beamtenkörpers. Ungesund ist auch die Verquickung von Personalversammlung und pädagogischer Dienstkonferenz in einer sog. Lehrerkonferenz. Solch eine Konstruktion ist nur dazu angetan, dass eine Rollenklarheit auf Seiten der Lehrkräfte verhindert wird. Kinder und Jugendliche, die solch einem Konstrukt als Schülervertretung zugeordnet sind, werden das Gefühl nicht los, immer nur am Katzentisch zu sitzen. So kann eine Lust auf Verantwortungsübernahme kaum entstehen.

Ein anderer Grund für die Unattraktivität schulischer Mitwirkung liegt in der Verwechslung von Politik und Verwaltung. Die zitierte Europarats-Charta spricht von „Governance“ und meint damit gewiss nicht die Übernahme unbedeutender Tätigkeiten zur Flankierung der Schulverwaltung. Das schwer zu übersetzende Wort liegt in seiner Bedeutung irgendwo zwischen Führung, Leitung und Gestaltung. Kluge Schulleitungen haben die Notwendigkeit natürlich längst erkannt, die Kinder und Jugendlichen an der Planung und Umsetzung wesentlicher Angelegenheiten zu beteiligen. Es ist ja auch gar nicht verboten, sie ins Rektorenzimmer zu bitten und in heiklen Leitungssachen um Rat zu fragen oder mit ihnen Szenarien eines beabsichtigten Entwicklungsschrittes vorzubesprechen. Sogar das gesamte Jahresprogramm kann mit der Schülerschaft gemeinsam entworfen werden[6].

Diese spürt letztlich genau, ob sie von der Schule ernst genommen wird – als diejenige Seite, der die Schule mit ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrag zu dienen hat. Während Bildungswissenschaft und Schulinspektionen längst erkannt haben, dass Schülerinnen und Schüler Auskunft über die Qualität von Schule und Unterricht geben können, hat sich diese Kompetenzvermutung noch lange nicht an jeder Schule herumgesprochen. So bleiben entscheidende Entwicklungsressourcen ungenutzt. Eine junge Generation, die in der oben skizzierten gesellschaftlichen Gegenwart lebt, wird daher eher mitleidig auf eine Institution blicken, die sich unterhalb der Standards alltagsweltlicher Beteiligung bewegt. Demokratisch bewusste Jugendliche entscheiden sich dann oft dafür, sich andernorts zu engagieren, und richten sich in einer inneren, „coolen“ Distanz zu ihrer eigenen Schule ein.

Engagement und Sinnfindung

Ob es sich lohnt, sich an seiner eigenen Schule zu engagieren, ist also eine Frage, die in abwägender Betrachtung differenziert beantwortet werden kann. Eine Schule, die das Nicht-Engagement Jugendlicher als Desinteresse denunziert, erliegt vielleicht nur einem unprofessionellen generationsbedingten Vorurteil oder aber ihrer déformation professionnelle, weil sie sich zu sehr angewöhnt hat, den Menschen auf den Schüler zu reduzieren. Zur Demokratie gehört, dass der junge Mensch die Frage: „Will ich mich hier engagieren?“ frei beantworten darf. Zum pädagogischen Verhältnis gehört, dass ich mich an einer Institution nicht gemeinsam mit Erwachsenen abarbeite, die mir im Unterrichtsalltag unfreundlich oder herablassend begegnen. Das heißt: Bevor es zum demokratischen Zusammenwirken von Jung und Alt kommt, muss erst einmal „die Chemie stimmen“.

Wertschätzung, Respekt, die Bereitschaft, „auf Augenhöhe“ zu kommunizieren – das sind auf der Seite der Pädagogik und des Schulmanagements die unerlässlichen Voraussetzungen dafür, dass sich auf Schülerseite eine Freude an der Mitsprache und Mitgestaltung entwickeln kann. Eine unfreundliche Schule, in der sich die Schülerschaft dennoch begeistert engagiert, können wir uns eigentlich nur in revolutionären Zeiten vorstellen – aber dann in einer Konfrontation, die eher den Regeln des politischen Kampfes folgt und in der das Porzellan des gepflegten Diskurses bereits in Trümmern liegt.

„Stellt euch vor“, habe ich meine Klassen manchmal gefragt, „eure Schule wäre aus Lego, und ihr könntet sie Stein für Stein auseinandernehmen. Würdet ihr sie hinterher genauso wieder zusammensetzen wie sie vorher war?“ Die Belustigung, die diese Frage auslöste, entsprang unter anderem der schlagartigen Erkenntnis, sich schon viel zu sehr an das Bestehende gewöhnt zu haben. Und in der Tat: Der Schüler ist ein Teil des Problems. Deswegen heißt er ja auch so. Er ähnelt darin dem passiven Bewohner der europäischen Landstriche, für den Politik eine naturhafte Unveränderlichkeit hat[7]. Was diesem Bewohner fehlt, um in die politische Sphäre eintreten zu können, ist ein persönlicher Staats-Entwurf im Kopf, gewissermaßen eine innere Republik. Ähnliches lässt sich für Schülerinnen und Schüler sagen. Ohne eine Schul-Idee fehlt dem Engagement der Treibstoff. Hunderttausende von Klassen- und Schulsprecher(inne)n kennen die spezifische Langeweile einer Sitzung, die von einer banalen Tagesordnung bestimmt wird. Die Kernfrage ist also nicht: Will ich mich engagieren? Sondern sie lautet: Wofür will ich mich engagieren? Dies ist die Frage nach dem Sinn.

Politische Inklusion

Die Metapher des kahlen Raums ist daher auch für alle, die „Schule halten“, eine demokratische Herausforderung. Wenn sie ihr Schulgesetz und ihre Bildungspläne ernst nehmen, müssen sie ihre Verantwortung dafür erkennen, dass sich in der Schulgemeinschaft ein demokratischer Diskurs entwickelt. Ohne ihn speisen sich in die Gremientagesordnungen nicht die Fragen ein, die alle bewegen. Ohne sie interessierende, werthaltige Grundfragen jedoch sind junge Menschen nicht bereit, sich auf „physischen“ Treffen unter womöglich ergonomisch ungünstigen Bedingungen einzufinden. Wenn die Schulpädagogik also Verantwortung für die politische Inklusion übernehmen will, muss sie jenseits des (notwendigen) Gremien-Kleinkleins eine geistige Atmosphäre erzeugen, die aufregt und zum Mitreden animiert. Dabei liegt die demokratische Kultur der Schule keineswegs nur in der Zuständigkeit der Politik-Fachschaft (obwohl man auf den verwegenen Gedanken kommen könnte, dass diese eine besondere Verpflichtung zur Entwicklung der Schuldemokratie hat). Gerade die hier angedeuteten Entwicklungsziele können in informellen, gemischten Schüler-Lehrer-Runden erarbeitet werden, in denen sich die Beteiligten ohne die Dazwischenkunft eines Bewertungsverhältnisses begegnen.

In den Bundesländern kann der Gesetzgeber die Tristesse der Schuldemokratie überwinden helfen, wenn er bei der nächsten Schulgesetz-Erneuerung die Verpflichtung der Schulen zur Qualitätsentwicklung um die Dimension der Demokratiequalität ergänzt. Wie das unterhalb der Gesetzesebene aussehen könnte, haben die Verfasser/innen eines Merkmalskatalogs dargelegt, der in Zusammenarbeit von fünf Lehrerbildungsinstituten und zwei Nichtregierungsorganisationen entstanden ist[8].

Inklusion ist viel politischer, als sie im schulpädagogischen Mainstream diskutiert wird. Kennen wir nicht alle jenen pubertierenden jungen Menschen, der unglücklich, lethargisch und depressiv hinter seinem Tisch sitzt und sich danach sehnt, dass endlich der Schultag vorbei ist? Was erleben wir da? Langeweile? Ich bestreite das. Ihn drücken die großen Fragen, was aus ihm werden soll und wozu er überhaupt dort sitzt. Ich behaupte: Er ist unterfordert. Die Unterrichtsinhalte erreichen ihn nicht. Die Schule funkt noch nicht auf seiner Wellenlänge. Sie interessiert sich nicht für das, was sein Credo sein könnte. In Wirklichkeit steckt er voller schwerer, sinnfälliger Gedanken. Langeweile? Manchmal habe ich meine Klassen mit der folgenden These provoziert: „Es heißt nicht: ‚Ich langweile mich.‘ Es heißt: ‚Ich bin langweilig.‘“ Über den heiteren Protest gegen diese These lässt sich der Weg bahnen zu den wirklichen Sinnfragen.

Ohne jedoch die Frage nach dem Sinn zu klären, kann die Schule kaum darauf hoffen, dass sich ein Bedürfnis nach aktiver Mitwirkung und Mitgestaltung entwickelt.

 

Kurt Edler

 



[1] Abs, Hermann Josef: Der Partizipationswürfel – Ein Modell zur Begleitung und Beobachtung demokratiepädagogischer Praxis. http://www.ingo-veit.de/blk/pdf_doc/publik/partwue.pdf

[2] Rosanvallon, Pierre: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe. Bonn (bpb) 2013.

[3] Wie in Hamburg am 18. 07.2010 beim Volksentscheid gegen das längere gemeinsame Lernen in einer Primarschule von Klasse 1 bis 6.

[4] Dass wir heute vielleicht etwas verhaltener auf die Entfesselung der Volkskräfte blicken als noch vor zehn Jahren, liegt auch an den überwiegend negativen Verlaufsformen des Arabischen Frühlings.

[5] Council of Europe Charter on Education for Democratic Citizenship and Human Rights (2010), Section III-8, dt. Übers.

[6] So veranstaltet die Mittelschule in Niederwiesa bei Chemnitz alljährlich am Schuljahrsende eine sog. G4-Konferenz, wo die großen vier Mitwirkungsparteien (Schüler, Eltern, Lehrer und Schulpartner) das neue Schuljahr planen. Aus der Schülerschaft werden die Engagiertesten ausgewählt, um daran teilnehmen zu dürfen.

[7] Vgl. Andreas Petrik: Von den Schwierigkeiten, ein politischer Mensch zu werden. Opladen (2. Aufl.) 2013. Kap. 9, bes. S. 228.

[8] Merkmale demokratiepädagogischer Schulen: Ein Katalog. 2. Aufl. Hamburg 2013.