Mit der Krise der europäischen Demokratie stehen wir im internationalen Jugendaustausch immer mehr vor neuen, heißen Fragen. Wie wollen wir z.B. mit ungarischen, polnischen, türkischen oder russischen Partnern in der Pädagogik umgehen, ohne einerseits die Grundwerte europäischer Rechtsstaatlichkeit zu verraten oder andererseits Konflikte zu provozieren, die die Völkerverständigung beschädigen? Allzuleicht kann auf diesem Feld die Zusammenarbeit zu einem belanglosen Eiapopeia werden.
Kategorie-Archiv: Politik
Glossen und Analysen zum Zeitgeschehen.
Eine seltsame Schwäche
In der Auseinandersetzung mit antidemokratischen Strömungen und Positionen erleben wir in unserem Lande immer wieder eine sonderbare Unstimmigkeit. Viele, die gegen völkischen Rassismus oder religiösen Fanatismus kämpfen, verstehen sich als Verteidiger von Freiheit und Emanzipation, sind aber häufig so staatsfern oder gar -phob, dass sie ihrem Gegenüber das Funktionieren einer demokratischen Ordnung nicht erklären können. So bleibt die von ihnen verteidigte Freiheit dann ziemlich abstrakt. Oft haben sie gegen den demokratischen Verfassungsstaat sogar handfeste Vorurteile oder suhlen sich in negativen Gefühlslagen, sobald es um „die Politiker“ geht. Diese Vorurteilsstruktur, behaupte ich, schmälert die Überzeugungsfähigkeit erheblich, zumal, wenn die Abneigung gegen den Staat derjenigen fatal ähnelt, die in den antidemokratischen Milieus auch verbreitet ist.
Vielleicht müssen wir in die Geschichte dieses problematischen Bewusstseins zurückschauen. Das versuche ich hier:
Mein Führer bin ich lieber selbst
In meinem politischen Leben habe ich noch nie so oft über das Grundgesetz geredet wie heute. So auch am letzten Montag (19.2.18), im Rauhen Haus in Hamburg, auf einer Bezirksveranstaltung über Religionssensibilität. Ich warnte vor dem exklusiven Wir, geißelte die Sucht nach Identitätsdiskursen von rechts und links und stellte das inklusive, menschenfreundliche Wir dagegen. Aber noch deutlicher unterstrich ich, dass vor dem Wir das ICH kommt, also das Recht des Einzelnen, jenseits aller Kollektivität seinen eigenen Weg zu gehen, und berief mich dabei auf die Freiheitsrechte des Individuums nach Art. 2 GG.
Beim anschließenden Stehtischempfang ging mich ein radikaler evangelischer Pastor hart an. Das sei ja der pure Individualismus! Er hielt die Kraft dagegen, die aus der Gemeinschaft kommt, und bei dem Wort begannen seine Augen zu leuchten. Ich war ganz entspannt, denn ich hatte mir mein Glas Wein und ein Stück Quiche bereits gesichert und hatte keine Lust mehr zu streiten. Aber in mir meldete sich der alte anarchistische Atheist, und ich dachte: Ja, toll, deine Gemeinschaft! Und du, Pastor, führst sie dann in ihrer kindlichen Unschuld als Hirte an, und wenn die Herde in die Schule kommt, übernehmen wir als Pädagogen den Stab. Ein inklusives Wir zwar, alle fühlen sich wohl, singen miteinander und fassen sich an den Händen, aber einer führt es – ganz göttlich. Nein, danke! Auf diese Machtkonstruktion habe ich keine Lust. Die war mir schon beklemmend, als ich noch dreizehn war und in einer Jungschar in Ostfriesland das Charisma eines Jugendpfarrers erlebte. –
Die kleine, kurze Kontroverse am Stehtisch in Hamburg-Horn hat mich mal wieder in meinem urdemokratischen Misstrauen gegen alle Seelsorge und Knabenführung bestärkt. Und da bin ich dann auch sehr gern der unverbesserliche Individualist, dem heiliger als alle Offenbarungen der Satz ist: Der Mensch ist frei geboren.
Kurt Edler
Wir schaffen euch
Seitdem die AfD im Bundestag sitzt, ist für sie irgendwie die Luft raus. Ihre Ausschussvorsitzenden werden mit dem politischen Rollator in ihr Amt eingeführt. Sie können es nicht ohne Gehhilfe. Man hilft ihnen distanziert, aber fair. Doch hüten wir uns vor Überheblichkeit. In die Hamburgische Bürgerschaft bin ich 1984 als Fundi eingerückt, und als Realo kam ich wenig später heraus. „Parlament“ kommt von „parlare“, reden – und manchmal fand ich die Argumente der Konkurrenz einfach einleuchtender als unsere eigenen von der GAL. Warum will ich den AfD-Abgeordneten in Bund und Ländern nicht auch diese heilsame Erfahrung gönnen?
Gewiss, sie müssen sich entscheiden. Sie können auf der Bundestagstoilette sitzend kleine Hakenkreuze an die Kabinenwand malen – aber wie lange wird das Spaß machen? Andreas Klärner hat vor etlichen Jahren dem deutschen Rechtsextremismus sein eigenes Dilemma vor Augen geführt – in A-Stadt, „zwischen Militanz und Bürgerlichkeit“. Militanz verliert. Der AfD sitzt eine historische Kette von rechten parlamentarischen Pleiten im Nacken. REPs, DVU und NPD haben sich gezankt, beschimpft, beklaut und sogar geschlagen – bis zum bitteren Niedergang. Einfach Kotzbrocken. Für die Debatte waren sie fast immer zu blöd.
Wählt die AfD den Weg des Hakenkreuzes, so hat die deutsche Demokratie eine geniale Mischung aus strafrechtlicher Bekämpfung, politischer Aufklärung, Erinnerungskultur und moralischer Ausgrenzung für sie bereit – ein so scharfes Instrument, wie sie kein anderes Land der Europäischen Union bereithält. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass es nicht so kommt. Der verführerische Reiz der parlamentarischen Deliberation ist nicht zu unterschätzen. Und „über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Kleist) sind schon viele Choleriker gestolpert. Deshalb dürfen wir vielleicht, in den abgewandelten Worten unserer Kanzlerin, der AfD ganz cool sagen: „Wir schaffen euch.“ Nicht wahr, Herr Gauland? Ihr Name ist doch Programm. Am Ende ein Land ganz ohne Gaue. Ein besseres Deutschland.
Aus Ärger abbestellt
Wer durch politischen Hass getrieben wird, schäumt leicht. Schaum kann man erzeugen. Als politischer Provokateur liebe ich es, Leute zum Schäumen zu bringen. Streit ist für mich der wahre Genuss. Diskussion ist für mich wie eine Sportart. Wie zum Beispiel neulich, als…
G-20-Krawalle: Staatsphobie und Gewaltakzeptanz
Meine These ist, dass wir es bei den Auseinandersetzungen während des G-20-Gipfels in Hamburg mit einem Wechselspiel aus politischer Militanz, Szene-Voyeurismus und links-alternativer Gewaltakzeptanz zu tun hatten, das sich am hochsymbolischen Gegenstand des Treffens von Staatenlenkern in unmittelbarer Nachbarschaft hochschaukeln konnte. Dabei kam eine Verantwortungslosigkeit zum Tragen, die gerade durch die Unverbundenheit der Akteure und die Beliebigkeit der Beteilungsangebote verstärkt worden ist.
Mehr dazu hier:
Jean-Luc Mélenchons rhetorische Figuren
Die unter deutschen Linken verbreiteten Sympathien für Mélenchon rühren womöglich von der romantischen Faszination für ein zorniges Frankreich her. Die Franzosen haben ihre Revolution(en) wirklich gemacht, wir nicht. Spätestens seit Heinrich Heine ist dieser Schmerz im deutschen politischen Denken wirkmächtig. Was „La France insoumise“ gegenwärtig liefert, ist, psychoanalytisch betrachtet, ein Introjekt für die linke deutsche Seele.
Aufgeklärter wäre es jedoch, genauer hinzuschauen.
Hasspolitik
„Konservativ“ – so nannte man noch vor zwei, drei Jahrzehnten Leute, die Sitte und Tradition, Recht und Ordnung gegen kulturelle Auflösungserscheinungen und politische Modernisierung verteidigten. Doch die Zeiten ändern sich. „Konservativ“ heißt nicht mehr bürgerlich, zivilisiert oder sittenstreng. Die politische Bühne wird neuerdings besetzt durch einen Typus, der konservative Ziele mit ganz anderen Mitteln verfolgt: Beschimpfung, Entgleisung, Diskriminierung, Hasstiraden und dreiste Lügen. Das aggressive, enthemmte Männchen hat Hochkonjunktur. –
Hasspolitik, eine neue Herausforderung. Muss die Zivilgesellschaft die Zähne zeigen? Und wenn wir es uns wünschen: Hat sie welche?
Mehr dazu hier:
KE Hasspolitik 18mrz17
Ein Streit mit den Grünen
Am 2.4.16 hatte die Tageszeitung DIE WELT unter dem Titel „Fürdie Grünen ist der Islamismus ein blinder Fleck“ mit mir ein Interview geführt, das zu einer großen Zahl kritischer grüner Repliken in den Social Media geführt hat. Ich antworte ihnen in einem dreiseitigen Brief:
Die Demokratiepolitik der Hamburger Grünen
Haben die Hamburger Grünen die Demokratie verbessert? Oder haben sie ungewollt nur den privilegierten Minderheiten eine Chance eröffnet, an der Bürgerschaftsmehrheit vorbei eigene Interessen zu verwirklichen? Das diskutiert der Autor im Online-Forum der Heinrich-Böll-Stiftung vor dem Hintergrund der gescheiterten Hamburger Schulreform von 2010.