Beteiligung ist ein schwieriges Wort. Wir sollten es nicht benutzen ohne zu erklären, was wir meinen. Gemeint sein kann die Möglichkeit der Mitentscheidung, also ein Stück Macht. Gemeint sein kann aber auch die bloße Einbezogenheit, zum Beispiel durch die Transparenz eines Verfahrens, auf das mir – wenn auch selber außen stehend – ein Blick gewährt wird. Und gemeint sein können alle Stufen dazwischen. Schulforscher und Demokratietheoretiker haben dazu ganze Modelle entwickelt und unterscheiden Grade der Partizipation[1], echte und unechte Beteiligung.
Die neue Demokratie
Unsere Demokratie ist heute nicht die gleiche wie Ende der achtziger Jahre. Das Bedürfnis nach Mitentscheidung hat sich in vielerlei Hinsicht Bahn gebrochen. Die Gesellschaft der aufgeklärten Republik ist mit dem Staat in einen Wettstreit getreten. „Demokratische Legitimität“ ist heute nicht mehr so leicht zu behaupten wie vordem. Staat und Parteien sehen sich ständig der Kritik einer selbstbewussten Öffentlichkeit ausgesetzt; Gegenöffentlichkeiten bilden sich sehr viel leichter heraus. Was politisch richtig, was moralisch gerechtfertigt ist, ist viel umstrittener als früher[2]. Die Internetgesellschaft erschwert dabei die Monopolisierung der Meinungsbildung und öffnet der Einmischung vom privaten Gerät aus beträchtliche Möglichkeiten.
So erschien Partizipation noch vor zehn, fünfzehn Jahren als Inbegriff einer neuen demokratischen Epoche. Große Mitspieler wie z.B. die Bertelsmann-Stiftung und das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, jedoch auch eine Unzahl kleiner, äußerst wirksamer Akteure sorgten für ein Umdenken. Kinderrechts- und Mitwirkungs-Profis halfen dabei. Informationsfreiheit und plebiszitäre Formen der Beteiligung fanden ihren Eingang in Landesgesetze, Kommunalverfassungen und Parteistatuten. Die reine Zuschauerdemokratie der frühen Bundesrepublik gilt immer mehr als ein bloß paternalistisches Vorstadium zu einer wirklichen Demokratie. Was eine gute Demokratie ist, ist eine Frage, die sich heute an weitaus anspruchsvolleren Qualitätskriterien bemisst als früher.
Partizipation ist dabei eine, aber nicht die einzige Form des demokratischen Handelns. Kritik, Protest, Polemik, Streit, Mobilisierung, Parteiung, Kandidatur und Wettbewerb sind andere elementare Formen. Sie alle zusammen unter „Partizipation“ zu fassen, tut der Sache keinen Gefallen, und dem Begriff auch nicht. Es macht ihn unscharf. Im permanenten Widerstreit der Werte und Interessen, der eben nur in der Demokratie ausgetragen werden kann, verliert der Begriff Partizipation noch aus einem anderen Grunde etwas von seinem ursprünglichen Glanz. Mächtige Gruppen der Gesellschaft betreten neben den Parteien die politische Bühne und schicken sich an, partikulare Interessen gegen die in der parlamentarischen Vertretung verkörperte Allgemeinheit durchzusetzen. Sind sie erfolgreich, tritt[3] eine Ernüchterung derjenigen ein, die die gesteigerte Bürgerpartizipation mit einem „Volksabstimmungsgesetz“ installiert hatten. Sind sie, wie bei Stuttgart 21, als bürgerliche Protestbewegung letztlich unterlegen, so kehrt auch damit die selbstorganisierte Partizipation auf den Teppich der politischen Realitäten zurück[4].
Kommt die Schule mit?
Wie auch immer wir das Verhältnis zwischen Parlament und Plebiszit austarieren, eines ist klar: Es gibt kein Zurück zu den alten Verhältnissen. Der kritische Blick richtet sich hierbei nicht nur auf das Zentrum der Willensbildung, das Parlament, sondern genauso auf jene Einrichtung, die den Auftrag und Anspruch hat, alle Kinder und Jugendlichen zu einer demokratischen Verantwortungsübernahme zu erziehen: die Schule.
In ihren Schulgesetzen formulieren die Bundesländer diesen Auftrag und Anspruch aus – in jeweils verschiedener Weise. Das steht ganz am Anfang, in der Regel in § 1, und liest sich meistens gar nicht so schlecht. Schauen wir dann aber die folgenden Paragraphen über die Struktur des Schulwesens und seine verfassten Organe an, tut sich ein sonderbarer Widerspruch auf. Uns stellen sich dann Fragen wie:
- Kann die Schülerin, kann der Schüler jene demokratischen Handlungskompetenzen, die das Schulgesetz hochhält, in der gegebenen Schulstruktur überhaupt erwerben?
- Definiert das jeweilige Schulgesetz die Schule als einen nicht nur formal demokratischen, sondern demokratieförderlichen Ort, an dem Demokratie erlebt und gelebt werden kann?
- Ist das Gesetz auf ein Erblühen der schulischen Demokratie ausgerichtet und auf eine Verantwortungsübernahme seiner Träger für eine Engagement-Förderung an der Schule?
Leider lassen sich diese Fragen nur verneinen. Landauf, landab klagen Schülervertreter und Schülertrainer darüber, wie sehr die bundesdeutsche Schülermitwirkung in einer Agonie liegt. Bei den Elternvertretungen sieht es in aller Regel kaum besser aus. Von einer florierenden Demokratie kann an den meisten Schulen kaum die Rede sein. Oft wird händeringend nach Freiwilligen gesucht. Nach langem Zureden lässt sich jemand breitschlagen. Eine echte Wahl zwischen mehreren Bewerbungen ist meistens nicht möglich. Schülerpartizipation hat oft den Charme eines kahlen Raums, der vom Hausherrn mit den Worten übergeben wird: „Macht es euch gemütlich.“ An der Türschwelle stehen ratlos die Demokratinnen und Demokraten von morgen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat als Mitgliedsstaat des Europarats eine Charta für Demokratie- und Menschenrechtserziehung unterzeichnet, in deren drittem Teil es unter der Überschrift „Democratic Governance“ heißt:
„Die Mitgliedstaaten sollten demokratische Führung in allen Bildungsinstitutionen nicht nur als eine wünschbare und nutzbringende Führungsmethode per se fördern, sondern auch als ein praktisches Mittel, um Demokratie und Respekt vor den Menschenrechten zu lernen und zu erleben. Sie sollten, mit den geeigneten Mitteln, die aktive Beteiligung der Lernenden, des Bildungspersonals und der verschiedenen Interessenvertreter, einschließlich der Eltern, an der Führung der Bildungsinstitutionen ermutigen und begünstigen.“[5]
Diese Selbstverpflichtung hat sich in deutschen Schulgesetzen bisher nicht niedergeschlagen, und in der Praxis der Schulen wird sie nur wenig umgesetzt.
Warum ist der Raum so kahl?
Die Gründe sind vielfältig. Die deutsche Schule ist immer noch eher eine Beamten- als eine Bürgerschule. Die Entscheidungsbefugnisse der Gremien sind begrenzt. Schulleitungen und Schulaufsichten können den ihnen nicht genehmen Voten widersprechen. Oft steht über einem Ausschuss mit gleichen Anteilen von Schülern, Eltern und Lehrkräften eine Gesamtkonferenz mit einem erdrückenden Gewicht des Beamtenkörpers. Ungesund ist auch die Verquickung von Personalversammlung und pädagogischer Dienstkonferenz in einer sog. Lehrerkonferenz. Solch eine Konstruktion ist nur dazu angetan, dass eine Rollenklarheit auf Seiten der Lehrkräfte verhindert wird. Kinder und Jugendliche, die solch einem Konstrukt als Schülervertretung zugeordnet sind, werden das Gefühl nicht los, immer nur am Katzentisch zu sitzen. So kann eine Lust auf Verantwortungsübernahme kaum entstehen.
Ein anderer Grund für die Unattraktivität schulischer Mitwirkung liegt in der Verwechslung von Politik und Verwaltung. Die zitierte Europarats-Charta spricht von „Governance“ und meint damit gewiss nicht die Übernahme unbedeutender Tätigkeiten zur Flankierung der Schulverwaltung. Das schwer zu übersetzende Wort liegt in seiner Bedeutung irgendwo zwischen Führung, Leitung und Gestaltung. Kluge Schulleitungen haben die Notwendigkeit natürlich längst erkannt, die Kinder und Jugendlichen an der Planung und Umsetzung wesentlicher Angelegenheiten zu beteiligen. Es ist ja auch gar nicht verboten, sie ins Rektorenzimmer zu bitten und in heiklen Leitungssachen um Rat zu fragen oder mit ihnen Szenarien eines beabsichtigten Entwicklungsschrittes vorzubesprechen. Sogar das gesamte Jahresprogramm kann mit der Schülerschaft gemeinsam entworfen werden[6].
Diese spürt letztlich genau, ob sie von der Schule ernst genommen wird – als diejenige Seite, der die Schule mit ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrag zu dienen hat. Während Bildungswissenschaft und Schulinspektionen längst erkannt haben, dass Schülerinnen und Schüler Auskunft über die Qualität von Schule und Unterricht geben können, hat sich diese Kompetenzvermutung noch lange nicht an jeder Schule herumgesprochen. So bleiben entscheidende Entwicklungsressourcen ungenutzt. Eine junge Generation, die in der oben skizzierten gesellschaftlichen Gegenwart lebt, wird daher eher mitleidig auf eine Institution blicken, die sich unterhalb der Standards alltagsweltlicher Beteiligung bewegt. Demokratisch bewusste Jugendliche entscheiden sich dann oft dafür, sich andernorts zu engagieren, und richten sich in einer inneren, „coolen“ Distanz zu ihrer eigenen Schule ein.
Engagement und Sinnfindung
Ob es sich lohnt, sich an seiner eigenen Schule zu engagieren, ist also eine Frage, die in abwägender Betrachtung differenziert beantwortet werden kann. Eine Schule, die das Nicht-Engagement Jugendlicher als Desinteresse denunziert, erliegt vielleicht nur einem unprofessionellen generationsbedingten Vorurteil oder aber ihrer déformation professionnelle, weil sie sich zu sehr angewöhnt hat, den Menschen auf den Schüler zu reduzieren. Zur Demokratie gehört, dass der junge Mensch die Frage: „Will ich mich hier engagieren?“ frei beantworten darf. Zum pädagogischen Verhältnis gehört, dass ich mich an einer Institution nicht gemeinsam mit Erwachsenen abarbeite, die mir im Unterrichtsalltag unfreundlich oder herablassend begegnen. Das heißt: Bevor es zum demokratischen Zusammenwirken von Jung und Alt kommt, muss erst einmal „die Chemie stimmen“.
Wertschätzung, Respekt, die Bereitschaft, „auf Augenhöhe“ zu kommunizieren – das sind auf der Seite der Pädagogik und des Schulmanagements die unerlässlichen Voraussetzungen dafür, dass sich auf Schülerseite eine Freude an der Mitsprache und Mitgestaltung entwickeln kann. Eine unfreundliche Schule, in der sich die Schülerschaft dennoch begeistert engagiert, können wir uns eigentlich nur in revolutionären Zeiten vorstellen – aber dann in einer Konfrontation, die eher den Regeln des politischen Kampfes folgt und in der das Porzellan des gepflegten Diskurses bereits in Trümmern liegt.
„Stellt euch vor“, habe ich meine Klassen manchmal gefragt, „eure Schule wäre aus Lego, und ihr könntet sie Stein für Stein auseinandernehmen. Würdet ihr sie hinterher genauso wieder zusammensetzen wie sie vorher war?“ Die Belustigung, die diese Frage auslöste, entsprang unter anderem der schlagartigen Erkenntnis, sich schon viel zu sehr an das Bestehende gewöhnt zu haben. Und in der Tat: Der Schüler ist ein Teil des Problems. Deswegen heißt er ja auch so. Er ähnelt darin dem passiven Bewohner der europäischen Landstriche, für den Politik eine naturhafte Unveränderlichkeit hat[7]. Was diesem Bewohner fehlt, um in die politische Sphäre eintreten zu können, ist ein persönlicher Staats-Entwurf im Kopf, gewissermaßen eine innere Republik. Ähnliches lässt sich für Schülerinnen und Schüler sagen. Ohne eine Schul-Idee fehlt dem Engagement der Treibstoff. Hunderttausende von Klassen- und Schulsprecher(inne)n kennen die spezifische Langeweile einer Sitzung, die von einer banalen Tagesordnung bestimmt wird. Die Kernfrage ist also nicht: Will ich mich engagieren? Sondern sie lautet: Wofür will ich mich engagieren? Dies ist die Frage nach dem Sinn.
Politische Inklusion
Die Metapher des kahlen Raums ist daher auch für alle, die „Schule halten“, eine demokratische Herausforderung. Wenn sie ihr Schulgesetz und ihre Bildungspläne ernst nehmen, müssen sie ihre Verantwortung dafür erkennen, dass sich in der Schulgemeinschaft ein demokratischer Diskurs entwickelt. Ohne ihn speisen sich in die Gremientagesordnungen nicht die Fragen ein, die alle bewegen. Ohne sie interessierende, werthaltige Grundfragen jedoch sind junge Menschen nicht bereit, sich auf „physischen“ Treffen unter womöglich ergonomisch ungünstigen Bedingungen einzufinden. Wenn die Schulpädagogik also Verantwortung für die politische Inklusion übernehmen will, muss sie jenseits des (notwendigen) Gremien-Kleinkleins eine geistige Atmosphäre erzeugen, die aufregt und zum Mitreden animiert. Dabei liegt die demokratische Kultur der Schule keineswegs nur in der Zuständigkeit der Politik-Fachschaft (obwohl man auf den verwegenen Gedanken kommen könnte, dass diese eine besondere Verpflichtung zur Entwicklung der Schuldemokratie hat). Gerade die hier angedeuteten Entwicklungsziele können in informellen, gemischten Schüler-Lehrer-Runden erarbeitet werden, in denen sich die Beteiligten ohne die Dazwischenkunft eines Bewertungsverhältnisses begegnen.
In den Bundesländern kann der Gesetzgeber die Tristesse der Schuldemokratie überwinden helfen, wenn er bei der nächsten Schulgesetz-Erneuerung die Verpflichtung der Schulen zur Qualitätsentwicklung um die Dimension der Demokratiequalität ergänzt. Wie das unterhalb der Gesetzesebene aussehen könnte, haben die Verfasser/innen eines Merkmalskatalogs dargelegt, der in Zusammenarbeit von fünf Lehrerbildungsinstituten und zwei Nichtregierungsorganisationen entstanden ist[8].
Inklusion ist viel politischer, als sie im schulpädagogischen Mainstream diskutiert wird. Kennen wir nicht alle jenen pubertierenden jungen Menschen, der unglücklich, lethargisch und depressiv hinter seinem Tisch sitzt und sich danach sehnt, dass endlich der Schultag vorbei ist? Was erleben wir da? Langeweile? Ich bestreite das. Ihn drücken die großen Fragen, was aus ihm werden soll und wozu er überhaupt dort sitzt. Ich behaupte: Er ist unterfordert. Die Unterrichtsinhalte erreichen ihn nicht. Die Schule funkt noch nicht auf seiner Wellenlänge. Sie interessiert sich nicht für das, was sein Credo sein könnte. In Wirklichkeit steckt er voller schwerer, sinnfälliger Gedanken. Langeweile? Manchmal habe ich meine Klassen mit der folgenden These provoziert: „Es heißt nicht: ‚Ich langweile mich.‘ Es heißt: ‚Ich bin langweilig.‘“ Über den heiteren Protest gegen diese These lässt sich der Weg bahnen zu den wirklichen Sinnfragen.
Ohne jedoch die Frage nach dem Sinn zu klären, kann die Schule kaum darauf hoffen, dass sich ein Bedürfnis nach aktiver Mitwirkung und Mitgestaltung entwickelt.
Kurt Edler
[2] Rosanvallon, Pierre: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe. Bonn (bpb) 2013.
[3] Wie in Hamburg am 18. 07.2010 beim Volksentscheid gegen das längere gemeinsame Lernen in einer Primarschule von Klasse 1 bis 6.
[4] Dass wir heute vielleicht etwas verhaltener auf die Entfesselung der Volkskräfte blicken als noch vor zehn Jahren, liegt auch an den überwiegend negativen Verlaufsformen des Arabischen Frühlings.
[5] Council of Europe Charter on Education for Democratic Citizenship and Human Rights (2010), Section III-8, dt. Übers.
[6] So veranstaltet die Mittelschule in Niederwiesa bei Chemnitz alljährlich am Schuljahrsende eine sog. G4-Konferenz, wo die großen vier Mitwirkungsparteien (Schüler, Eltern, Lehrer und Schulpartner) das neue Schuljahr planen. Aus der Schülerschaft werden die Engagiertesten ausgewählt, um daran teilnehmen zu dürfen.
[7] Vgl. Andreas Petrik: Von den Schwierigkeiten, ein politischer Mensch zu werden. Opladen (2. Aufl.) 2013. Kap. 9, bes. S. 228.
[8] Merkmale demokratiepädagogischer Schulen: Ein Katalog. 2. Aufl. Hamburg 2013.