Zum Symbol der internationalen Protestkundgebung von 1,5 Millionen Teilnehmern in Paris gegen die Auslöschung der Charlie-Hebdo-Redaktion am 7. Januar wird der Bleistift. Es ist der Bleistift des Karikaturisten, mit dem dieser den Propheten verhöhnt hat. Kaum dass die Bluttat geschehen war, tauchen zahlreiche Karikaturen auf. So auch heute auf der Demonstration mit 50 Staatsoberhäuptern und Demokratiefans aus der ganzen Welt. Ein Sturmgewehr – und ein Bleistift, der sich ihm trotzig entgegenstreckt. Ein zerbrochener Bleistift in einer Blutlache, und um ihn herum eine Un-menge neuer Bleistifte. „On continue“, sagt ein Plakat auf der Demo. Die Demonstranten identifizieren sich mit der Redaktion – „Je suis Charlie“ wird zur Weltparole der freien Gesellschaften. Wir machen weiter. Bundespräsident Gauck schloss seine Beileidsbekundung mit den Worten „Wir sind Charlie“. Allein 3,3 Millionen Menschen demonstrieren in Frankreich.
Dass ein Massaker eine Welle künstlerischer Kreativität auslösen kann, ist nicht selbstverständlich. Hier liegt es nahe. Anders als am 11. September 2001, wo die wirtschaftlichen und militärischen Symbole einer Supermacht angegriffen wurden – mit zweifellos viel höherem Blutzoll – zielte der Überfall auf die Charlie-Hebdo-Redaktion auf das Allerheiligste der Demokratie: die Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit. Es war ihr Humor, ihr Witz, ihre Satire, die dem Team um Charb zum Verhängnis wurden. „Morts de rire“, sagt ein Demoplakat. Vor Lachen gestorben. Ein makabrer Doppelsinn. Dass die Banalität einer Karikatur ein solches Ausmaß mörderischer Energien freisetzen kann, erscheint absurd. „Ein Bild verdient tausend Worte, aber nicht den Tod.“ Und selbstbewusst verteidigt sich der kritische Geist gegen den dumpfen Terror der Gewalt: „Was fließen muss, ist Tinte, nicht Blut.“ („C’est l’encre qui doit couler pas le sang.“) In der Bewertung bleiben die Täter nicht ungeschoren, aber selbst dies wird in einen Witz gekleidet: C’est dur d’être tués par des cons“ – es ist hart, von Dumpfbacken umgebracht zu werden.
Am knappsten fasst das Gefühl der sich aufbäumenden Intelligenz ein Schild zusammen, auf dem steht: „RIRE BORDEL DE DIEU“. Dieu, Gott, das ist sinnig, es geht schließlich um religiösen Extremismus. Übersetzen könnte man den Spruch etwa mit: „Gott verdammt nochmal, hört bloß nicht auf zu lachen.“
Die Demonstrationsteilnehmer drücken ihre Solidarität aus, indem sie sich mit den Opfern vom 7.1. in der Redaktion und vom 8.1 in dem jüdischen Laden an der Place de Vincennes identifizieren: Je suis Charlie – Je suis juif – je suis flic (Ich bin Charlie, ich bin Jude, ich bin Polizist). Das Terrorquartett hat drei Ziele im Visier gehabt: Redakteure, Ordnungshüter und zufällige Kunden des Supermarkts. Judenhass, Hass auf den Staat und Hass auf die Karikaturisten waren ihre Motive. Damit bringen sie gegen den Islamismus die breitestmögliche Allianz auf die Beine, die Europa, Afrika und der Nahe Osten bisher gesehen haben.
Erdoğan fehlte übrigens. Inzwischen gibt es eine weltweite Irritation unter demokratischen Journalisten, wie mir ein Auslandsprofi vom „Spiegel“ erzählte. In AKP-nahen Zeitungen hat es schon am Tag nach dem Anschlag auf das Satireblatt viele Stimmen des Verständnisses und der Unterstützung für die Terroristen gegeben, von der Art wie: „Die Karikaturisten, die unseren Propheten beleidigt haben, sind tot.“ Zu dieser politischen Orientierung passt, dass offenbar das vierte Mitglied der Terrorgruppe ungehindert über die Türkei nach Syrien ausreisen durfte.
Die „Türkiye“ schreibt von einem bestellten Anschlag. Die „Akit“ behauptet, dass es eine Provokation gewesen sei, um Muslime zu verunglimpfen. „Milli Gazete“ bezeichnet Paris als Hauptstadt der Dunkelheit, und „Yeni Asya“ sagt: „Es ist immer die gleiche Inszenierung“. – Der Fernsehsender Al Yazeera bringt es fertig, über 20 Minuten von der Pariser Demonstration zu berichten, ohne das Motiv der Terroristen zu nennen. Auch die Freiheit des Karikaturisten wird wegretuschiert. Der Bleistift kommt nicht vor.
Kurt Edler